Ein Wort, ein Mythos: Um den «Jazz» ranken sich unzählige Legenden. Geschichten, in denen Genie und Leidenschaft stets ganz nah an den Abgrund führen. Geschichten der Brüderlichkeit, die oft im Schutz der Nacht spielen. Und häufig sind dabei Drogen involviert. Erst diese Anekdoten machen den Jazz ganz, sie gehören einfach dazu, und die Fans erzählen sie gerne weiter und pflegen sie zärtlich.
Marc Myers arbeitet in seinem Buch «Why Jazz Happened» mit einer einfachen These: Die zehn wichtigsten Stilrichtungen des Jazz, sagt er, seien durch externe Ereignisse ausgelöst worden. Sie seien alle aus den Umständen heraus entstanden.
Primat des Individuums
Meist wird die Geschichte des Jazz ja umgekehrt erzählt. Man geht zu Recht vom Genie des Einzelnen aus, das die Ereignisse ins Rollen bringt. Zum Wesen des Jazz gehört ja, dass die Musiker mit ihren unverwechselbaren Stimmen das Kollektiv des Tanzorchesters ablösten.
Jazz ist Personenkult. Er soll, er muss anekdotisch überliefert werden. Das weiss natürlich auch Autor Marc Myers ganz genau. Immerhin hat der Musikjournalist und Blogger die wichtigsten noch lebenden Jazzer seines Landes interviewt. Diese Interviews sind auch für sein neues Buch unverzichtbar.
Der Autor lässt die Musiker oft und ausführlich zu Wort kommen. Nur lässt er sie hier für einmal nicht über sich selbst reden – sondern über die Umstände, die sie zu ihrer Musik gebracht haben.
Das Sein bestimmt das Bewusstsein
«Why Jazz Happened» geht zwar von Anekdoten aus, zoomt dann aber schnell davon weg und beleuchtet die Lebensumstände der Musiker in den USA: die wirtschaftlichen und politischen Geschehnisse, die den Alltag geprägt haben. So werden plötzlich Verbindungen sichtbar, springen neue Zusammenhänge ins Auge.
Das liest sich zuweilen spannend wie ein Thriller. Ein Beispiel: Der Zweite Weltkrieg prägte ohne Zweifel auch die US-amerikanischen Musiker, die fast alle die Uniform anzogen. «Why Jazz Happened» bietet hier eine neue Erkenntnis: Als Folge des Zweiten Weltkriegs fand die klassische Musik Eingang in den Jazz.
Grund dafür ist die «G.I. Bill», ein Förder-Programm der USA. Dieses Gesetz sollte verhindern, dass die heimkehrenden Soldaten den ohnehin serbelnden Arbeitsmarkt überfluteten. Um die Veteranen für einige Jahre vom Arbeitsmarkt fernzuhalten, schenkte der Staat ihnen Bildung.
Per Gesetz ans Konservatorium
Die «G.I. Bill» war quasi das Eintritts-Ticket für ein Collegestudium – und das galt auch für Jazzmusiker. Sie erhielten plötzlich Zugang zu den Konservatorien. Deren Pforten hatten vor dem Krieg nur klassischen und bessergestellten Musikern offen gestanden. Nun wurden die Musikhochschulen für alle zugänglich. So kamen auch Jazzmusiker in Berührung mit der klassischen Formenlehre, dem Kontrapunkt – und natürlich auch mit den modernen Avantgarde-Komponisten, die während des Kriegs aus Europa hatten fliehen müssen.
Ohne den Zweiten Weltkrieg hätte es den West Coast Jazz, so wie wir ihn heute kennen, nicht gegeben. Das ist die zugespitzte These von Marc Myers.
Weisse prägten den West Coast Jazz
Die Geschichte des Jazz ist immer auch eine Geschichte der Rassendiskriminierung. Dieser Aspekt kommt in «Why Jazz Happend» besonders stark zum Ausdruck, weil das Buch sich mit den Mechanismen hinter der Musik beschäftigt.
Marc Myers beantwortet auch die Frage, warum praktisch ausschliesslich Weisse den West Coast Jazz geprägt haben. Schuld daran waren nicht etwa die Musiker. Die schienen keinerlei Berührungsängste zu kennen. Verantwortlich für die Abwesenheit der schwarzen Musiker in Kalifornien waren die Lobbys der Weissen.
Die setzten sich bis in die 1960er hinein erfolgreich für die Rassentrennung ein. Der Jazz und die Filmmusik im Los Angeles der 50er, das war ein florierendes Geschäft. Musiker konnten sich locker ein Haus in einem gut betuchten Vorort leisten, eine Familie und mehrere Autos. Doch die hübschen Retorten-Siedlungen waren für die Weissen reserviert. Und zu den lukrativen Musikjobs kamen Musiker nur auf dem Golfplatz, beim Plausch mit den Musikproduzenten. Und da waren Schwarze unerwünscht.
West Coast Jazz war also, ohne dass die Musiker das gewollt hätten, eine weisse Strömung. In diesem Licht bekommt die von den Medien konstruierte Rivalität mit dem Jazz der Ostküste eine deutlich politische Note.
Analyse zerstört Mythen
«Why Jazz Happened» von Mark Myers sei «ein Buch, das Mythen zerstört», urteilte der Jazzproduzent und «Grammy»-Gewinner Creed Taylor. Es sei fantastisch, es habe ihm die Augen geöffnet. «Ein Buch, das die Zukunft des Jazzjournalismus beeinflussen wird», davon ist auch Terry Teachout überzeugt, der Biograf von Louis Armstrong.
Der Tenor ist klar: «Why Jazz Happened» ist ein wegweisendes Buch, das uns noch oft begegnen wird. Die Lektüre hat jedoch auch einen ernüchternden Effekt: Wenn sich alles aus Wirtschaft und Alltagsgeschichte herleiten lässt, wo bleibt dann die Romantik des nächtlichen Schöpfungsaktes, wo bleiben das Genie, die Innovation des Einzelnen? Keine Sorge. All dies ist da. Es schwebt zwischen den Zeilen, im Respekt von Marc Myers' Haltung. Und ganz sicher lebt es in der Musik, über die er schreibt.