Der Mann mit Lockenkopf ist mit einer Mission unterwegs. Dabei könnte David Greilsammer, Absolvent der renommierten Juilliard School, einfach mit Mozartkonzerten und Klavierrezitals um die Welt touren. Das hat der heute 37-Jährige anfangs auch getan, aber während eines solchen Auftritts fiel der Groschen: Schluss damit, fertig, aus, das kann's doch nicht gewesen sein!
Aber was soll es stattdessen sein? Das beschäftigt den ältesten Sohn einer grossen Akademikerfamilie aus Jerusalem seither fast rund um die Uhr. Aus der Unzufriedenheit über die Situation in den Konzertsälen – oft wenig Publikum, sehr oft wenig Junge – versucht er kreatives Kapital zu schlagen.
Was ihm nicht passt, bringt Greilsammer schnell auf den Tisch. Die Ticketpreise sind zu hoch, die Konzerte zu lang, die Atmosphäre zu distanziert, die Programmierung routiniert und die halbstündigen Pausen entsetzlich. Die klassischen Konzertformen, sagt Greilsammer, sind Formen des 19. Jahrhunderts. Wir aber leben im 21. Jahrhundert, ist doch klar, dass wir Veränderung brauchen.
Musik für die Generation Smartphone
In Genf hat sich Greilsammer ein Experimentierfeld für diese Veränderungen geschaffen. Mit dem selbst gegründeten Orchester Geneva Camerata setzt er jetzt schon in der zweiten Saison seine Vorstellungen um, sammelt Erfahrungen, fällt auf die Nase und steht wieder auf. An Ideen mangelt es ihm nicht, der rote Faden, der sich durch seine Arbeit zieht, sind Begegnungen mit anderen Künsten und Musikstilen. Fürs Publikum will er starke emotionale Erlebnisse schaffen und die Distanz zu den Musikern aufheben.
Links zum Artikel
Was bietet er an? Kurze Konzerte von maximal einer Stunde und ohne Pause. Ein Konzert, in dem das Publikum bestimmt, was das Orchester spielt. Ein Konzert, in dem das Orchester gemeinsam mit einem Jazzpianisten improvisiert. Ein Konzert, in dem der Kontrabassist plötzlich zum E-Bass greift und der Cellist zur Gambe. Ein Konzert mit einer Uraufführung, in der der junge Komponist auf Vivaldi reagieren muss.
Wildes fürs Herz
Greilsammer bittet das Publikum auf die Bühne, wo es die Nase in die Noten stecken und mit den Musikern plaudern kann. Er lädt Pop-, Jazz- und Folkmusiker ein, redet mit Kindern, arbeitet mit Tänzern, Choreografinnen und bildenden Künstlern, geht in Altersheime und Gefängnisse. Die Welt ist doch heute pluralistisch und betreibt ständig Multitasking, sagt er, wieso soll das im Konzert anders sein?
Viele dieser Experimente machen andere Orchester und Musiker auch, aber kaum in dieser Dichte und Konsequenz. Der bisherige Erfolg der Geneva Camerata – übrigens ein Orchester ohne einen Rappen Subvention – macht Greilsammer Mut. Der Glaube ans Publikum befeuert ihn ebenso wie die Überzeugung, dass die Zuständigkeit für Ideen und Veränderung bei ihm als Künstler liegt, nicht bei der Politik oder den Geldgebern.
Ohne Kunst sind wir nichts
Hinter dieser Überzeugung steckt auch seine Herkunft. Seine Eltern haben ihm und den vier Brüdern eingeschärft, dass Kultur das Allerwichtigste ist und der Mensch ohne sie ein Nichts. Ausserdem hat er, der in einem der konfliktreichsten Gebiete der Welt aufgewachsen ist, zwar Militärdienst geleistet, bezeichnet sich aber als Pazifisten und sucht in allen Gegensätzen das Gemeinsame. Er ist ein Brückenbauer zwischen Menschen, Epochen und Stilen, egal ob als Pianist oder Dirigent. Ein Enthusiast, dieser Greilsammer.