Claudio Abbado
Die Rituale im klassischen Konzertsaal sind manchmal so, wie Rituale eben sind: Sie passieren einfach. Nicht so bei Claudio Abbado. Wer einmal einen Auftritt des italienischen Maestros (der er nie sein wollte) erlebt hat, weiss, dass sich auch ein statischer Konzertsaal zu einer lebendigen Kreatur wandeln kann. Weil die Menschen im Publikum und die Musikerinnen und Musiker auf der Bühne miteinander zu kommunizieren anfangen, und man diese Dringlichkeit der Töne und Klänge in sich zu spüren beginnt.
Das beste Publikum, so erklärte Claudio Abbado dem Filmemacher Paul Smaczny gegenüber, sei das, das die Stille nach dem Ende der Musik möglichst lange aushält – ein Zeichen für Claudio Abbado, dass sich die Atmosphäre im Publikum geändert hat, dass eine andere Akustik im Saal herrscht: «Das beste Publikum ist jenes, das nach dem Ende von Stücken wie Mahlers 9. Sinfonie oder Verdis Requiem am längsten in Stille verharrt – das sind jene Schlüsse, nach denen man nicht applaudieren kann. Je länger eine solche Stille dauert, desto mehr spürt man den Saal mit dem Publikum, das den Atem anhält. Das ergibt eine andere Akustik, eine andere Atmosphäre.»
Meister der Schlagtechnik und der fliessenden Gesten
Musik ist eine Luftkunst. Und Klang entsteht aus Stille: Das weiss jeder Dirigent, doch Abbado formte die Prozesse, die zur Musik führen, mit einer besonderen Eindringlichkeit. Das Geheimnis dahinter bleibt letztlich sein Geheimnis.
Die sichtbaren Grössen sind Abbados perfekte Schlagtechnik, seine fliessenden Gesten. Wichtiger aber ist Abbados Art der Kommunikation. Ein Orchester war für ihn keine Musiker-Masse, sondern ein Musiker-Kollektiv. «Zuhören!» ermahnte er seine Orchestermusiker in den Proben: Denn nur wer die anderen hört, spielt auch mit ihnen. «Claudio Abbado hatte einen einzigartigen Sinn für Balance», erzählt der Geiger Etienne Abelin, der oft unter Abbado gespielt hat.
Musikalische Meilensteine
Dieses Prinzip der Kammermusik übertrug Abbado auch auf die grossen Besetzungen. Zu musikalischen Meilensteinen aus den letzten Jahren wurden so etwa seine Konzerte und Aufnahmen der Sinfonien Gustav Mahlers und Anton Bruckners. Den grossen Komponisten – auch Schubert, Beethoven, Mozart, Brahms, Debussy zählten dazu – hat sich Abbado mit Vorliebe zugewandt.
Seit 2002, als er den Chefposten bei den Berliner Philharmonikern verliess, konnte es sich Abbado auch leisten, nach Wunsch zu musizieren. Vor allem zusammen mit dem Lucerne Festival Orchestra, das mit den erfahrenen Kammermusikern und namhaften Solisten auf den zentralen Orchesterpositionen seine Idee des musikalischen Kollektivs auf ideale Weise zu erfüllen schien. Sowie später auch mit dem Orchestra Mozart. Abbado wurde regelmässiger Gast in Luzern.
Engagement für Junge und Neues
Zusätzlich setzte er sich für das Neue und für die Jungen ein: für die neue Musik beim von ihm 1988 gegründeten Festival Wien Modern. Und für die hochbegabten Nachwuchsmusiker, die er seit 1986 im Gustav Mahler Jugendorchester zusammenführte.
Ein Maestro hat er nie sein wollen, und er könne schwören, so erklärte Abbado einmal in einem Interview, dass er, obwohl in einem Musikerhaushalt aufgewachsen, nie die Absicht gehabt hatte, Dirigent zu werden. Was ihn von Anfang an aber fasziniert habe, sei allein die Magie des Musikmachens gewesen. Nun ist der Orchester-Magier verstummt.