Auch im 18. Jahrhundert lebt der Orpheus auf der Bühne weiter – mit mehr oder weniger Glück. Glücklos verläuft 1726 die erste Aufführung von «Orpheus oder die wunderbare Beständigkeit der Liebe», für die Hamburger Oper komponiert von Georg Philipp Telemann. Zehn Jahre später zeigt er das Werk nochmals, diesmal unter dem Titel «Rachbegierige Liebe, oder Orasia, verwitwete Königin in Thrazien». – Ja, was denn nun: beständige Liebe oder rachgierige Liebe?
Beides eben – denn Telemanns Oper bringt den schlimmen Schluss des Orpheus-Mythos: Orasia, die von Orpheus verschmähte Königin, lässt ihn von den Bacchantinnen aus Rache in Stücke reissen. Dieser Schluss ist sehr unkonventionell: Die Barockoper hat obligatorisch ein Happy End. Unkonventionell ist Telemanns Oper auch sonst: Das Libretto ist zwar deutsch, es finden sich darin jedoch italienische Arien und französische Chöre. Und ungewöhnlich ist auch, dass Orpheus mit Eurydike bei ihrem Tod melodramatisch dialogisieren darf.
Gluck geht radikal zu Werke
Italienische Arien, französische Chöre, Nebenbuhler, komischen Figuren: Das war – eine Generation nach Telemann – dem Komponisten Christoph Willibald Gluck zuviel, weil zu unglaubwürdig, und er ging radikal ans Werk. Glucks «Orfeo ed Euridice» (1762) hat nur noch drei Personen: Orfeo, Euridice und Amore. Auch die Handlung selbst ist extrem kondensiert: Zu Beginn der Oper ist Eurydike bereits tot, so dass Glucks Hit «Che farò senz‘ Euridice» das Werk eröffnet.
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Glucks «Orfeo» war Gesprächsstoff in ganz Europa, er konnte ihn sogar als «Orphée» in Paris produzieren. Sein Landsmann Joseph Haydn mochte diesen Kurs dennoch nicht einschlagen. Als er 1790 selbst einen «Orfeo» für London schreibt, bringt sein Libretto wieder all die Zutaten, die Gluck verbannt hatte: Ein König Creon tritt als Eurydikes Vater auf, der seine Tochter fatalerweise bereits einem Aristeo versprochen hat, bevor sie Orfeo heiratet. Eurydike stirbt dramatisch auf offener Szene, als Aristeos Gefolgsleute sie entführen wollen. Haydns «Orfeo» stand unter einem schlechten Stern: Er wurde in London nie gespielt.
Von Haydn bis Offenbach
Mit Haydn endet auch die Geschichte der Orpheus-Opern des 17. und 18. Jahrhunderts: Der Orpheus-Mythos ist ein Stoff der Barockoper – undenkbar, dass im 19. Jahrhundert Komponisten wie Verdi oder Wagner ihn nochmals vertont hätten! Und doch: 1858 steigt Orpheus in Paris ein weiteres Mal in die Unterwelt hinab: «Orphée aux Enfers» heisst das Stück, in dem wiederum die alten Helden und Götter erscheinen.
Doch es sind die Helden und Götter aus Politik und Wirtschaft, der Halb- und Unterwelt. Sie erscheinen in einer Opéra-bouffe von Jacques Offenbach, der sie gehörig durch den Kakao zieht. So stirbt Eurydike zwar auch hier – aber freiwillig, denn ihr Ehemann Orpheus ist ein eingebildeter Langweiler; in der «Unterwelt» geht es bestimmt viel lustiger zu und her als in ihrer öden Ehe.
Nach Jacques Offenbachs ironisch-satirischem Schlusspunkt bleibt es lange still um den göttlichen Sänger. Erst im 20. Jahrhundert greifen Komponisten den Stoff wieder auf, darunter Igor Strawinsky und Hans Werner Henze, am eindrücklichsten aber wohl Harrison Birtwistle. Neben verschiedenen kleineren Werken zeigt vor allem seine monumentale Oper «The Mask of Orpheus» nochmals die vielfältigen und letztlich unerschöpflichen Aspekte des Orpheus-Mythos.
Empfohlene Aufnahmen
Georg Philipp Telemann: Orpheus (Hamburg 1726 / 1736)
Markus Volpert, Dorothee Mields, Ulrike Hofbauer
L’Orfeo Barockorchester
Dir. Michi Gaigg
dhm 88697 805 972
Christoph Willibald Gluck: Orfeo ed Euridice (Wien 1762)
Derek Lee Ragin, Sylvia McNair, Cyndia Sieden
Monteverdi Chor, English Baroque Soloists
Dir. John Eliot Gardiner
Philips 434 093
Christoph Willibald Gluck: Orphée et Euridice (Paris 1774)
Richard Croft, Mireille Delunsch, Marion Harousseau
Les Musiciens du Louvre
Dir. Marc Minkowski
Archiv 471 582
Joseph Haydn: Orfeo ed Euridice (London 1790/91)
Uwe Heilmann, Cecilia Bartoli, Ildebrando d’Arcangelo
Academy of Ancient Music
Dir. Christopher Hogwood
L’Oiseau-Lyre 452 668
Jacques Offenbach: Orphée aux Enfers (Paris 1858/1874
Yann Beuron, Natalie Dessay, Laurent Naouri, Patricia Petibon
Choeur et Orchestre de l’Opéra de Lyon
Orchestre de Chambre de Grenoble
Dir. Marc Minkowski
EMI 7243 556 725
Harrison Birtwistle: The Mask of Orpheus (1973/1984)
Jon Garrison, Peter Bronder, Anne Marie Owens, Alan Opie, Omar Ebrahim, Marie Angel
BBC Singers und BBC Symphpny Orchestra
Dir. Andrew Davies und Martyn Brabbins
NMC D 050