Francesca Verunelli, Sie stammen aus der Toskana, aus einer kleinen Stadt zwischen Pisa und Florenz. Sind Sie dort in einer musikalischen Umgebung aufgewachsen?
Mein Grossvater liebte die klassische Musik, und ich erinnere mich an starke erste musikalische Erlebnisse, als ich ganz klein war. Er führte mich an die Musik heran, so wie er das schon mit den eigenen Kindern getan hatte. Wir machten Hausmusik und er nahm mich früh auf Konzerte mit. Mit drei Jahren begann ich Klavier zu spielen.
Kamen Sie dort auch schon mit der zeitgenössischen Musik in Berührung?
So mit zwölf, dreizehn habe ich mir aus Neugier – ich wollte möglichst viel kennenlernen – auch moderne Musik angehört, im Konzert und auf Platten. Aber richtig beschäftigt habe ich mich damit erst später.
Wann begannen Sie zu komponieren?
Ich spielte Klavier und auch ein wenig Geige und habe damals kleine Stücke geschrieben – oder eher: Bekanntes nachgeahmt. Mit fünfzehn besuchte ich einen Kompositionskurs – und damals, eigentlich sehr früh, fiel die Entscheidung für das Komponieren. Beim Klavierspielen hatte ich nämlich gemerkt, dass es mich in diese Richtung zog: Ich wollte neue Klangwelten entdecken und selber welche schaffen.
Und auf diese Weise haben Sie allmählich zu Ihrer eigenen Musiksprache gefunden?
Man muss erst einmal die eigenen technischen Mittel haben, um die zunächst nur dunkel vorhandenen Ideen zu entwickeln. Es gibt in der Neuen Musik ja keine allgemeingültige Sprache mehr wie etwa einst im 18. Jahrhundert. Wir heute müssen selber eine Sprache erfinden, das erfordert mehr Zeit und Recherche. Es ist zudem nicht leicht, weil die zeitgenössische Musik ja sehr heterogen ist. Aber es ist ein wunderbares Abenteuer, das auch für die Zuhörer bereichernd ist.
Und was interessiert Sie besonders bei dieser Arbeit?
Die Form und die Erzählung in der Zeit. Ich erfinde die Klänge nicht, um sie dann über einen Zeitverlauf zu verteilen, sondern ich schaffe den Zeitverlauf aus den Klängen heraus. Ich schreibe oder erzähle also Zeit – fast so wie in einem Roman. Das ist ein anderes Zeitgefühl, als wir es biologisch oder mit dem Blick auf die Uhr erleben: Diese Zeit kann sich zusammenziehen und wieder ausdehnen, sie kann kontinuierlich ablaufen oder überraschen. Mit solchen Prozessen arbeite ich zum Beispiel in meinem neuen Orchesterstück «Graduale, disambiguation».
Sie wohnen heute in Paris. Werden Sie irgendwann nach Italien zurückkehren?
Nein. Es ist schade, denn es gibt dort viele exzellente Musiker und auch Ensembles und Institutionen, die auf geradezu heroische Weise für die Neue Musik kämpfen. Aber die Situation für zeitgenössische Kultur ist allgemein sehr schwierig. Das braucht viel Anstrengung und beträchtliche Kraft – und leider ist es ohnehin nicht ganz einfach, vom Komponieren zu leben. Aber die Hoffnung bleibt. Vielleicht eines Tages.