Musikinstrumente erleben bisweilen sonderbare Verwandlungen. Die Mundharmonika wurde einst als Spielzeug in Wien erfunden, um später in den USA zum schwarzen Bluesinstrument zu werden. Ähnlich erging es dem Toy Piano. Das winzige Spielzeugklavier war ursprünglich ebenfalls fürs Kinderzimmer entwickelt worden, um den Nachwuchs ans Musikmachen heranzuführen. Heute wird es immer mehr in Jazz, Pop und avantgardistischer E-Musik eingesetzt. Ein Happy End für eine bewegte Karriere, die vor fast 150 Jahren begann.
Verschobene Grössenverhältnisse
Das Toy Piano gibt es in verschiedenen Varianten. Entweder sieht es wie ein Klavier oder wie ein Konzertflügel aus – nur viele Nummern kleiner! Doch obwohl es eine konventionelle Tastatur besitzt, funktioniert es anders als ein normales Piano: Anstatt Stahlsaiten werden mit den Tasten Metallplättchen angeschlagen. Das verleiht dem Toy Piano einen hellen Klang und macht es zum Verwandten von Xylophon oder Glockenspiel.
«Das Toy Piano verfügt über eine besondere Attraktivität, einen Charme, der den Leuten gefällt», beschreibt die New Yorker Pianistin Margaret Leng Tan seine Anziehungskraft. «Es verzaubert die Zuhörer. Es besitzt eine Magie, die das Publikum in den Bann zieht. Selbst Dissonanzen nimmt es die Schärfe.» Diese Faszination hat mit einer Irritation zu tun. Wenn ein Erwachsener sich ans Toy Piano setzt, geraten die Grössenverhältnisse durcheinander. Dann fühlt sich der Zuhörer in eine Märchenwelt versetzt. Hinter die sieben Berge, zu den sieben Zwergen.
Das Toy-Piano erobert die Konzertsäle ...
Was einst im Kinderzimmer begann, hat mittlerweile den Konzertsaal erreicht. In vielen Sparten der Musik ist das Toy Piano immer mehr präsent. Popgruppen wie Radiohead oder Sigur Rós setzen es ein, auch Björk und Tom Waits. Selbst ein Toy Piano Orchester gibt es unter dem Namen Twink in den USA.
Der amerikanische Avantgarde-Komponist John Cage war der Erste, der sein Potential erkannte. 1948 schrieb Cage eine «Suite for Toy Piano». Andere Komponisten liessen sich davon inspirieren. Mittlerweile ist ein umfangreiches Repertoire entstanden, das sogar Werke für Toy Piano und Elektronik umfasst. Die österreichische Pianistin Isabel Ettenauer kommt bei Konzerten mit drei oder vier Kinderklavieren und einem Laptop auf die Bühne. So spielt sie Kompositionen von Karlheinz Essl, manipuliert, überlagert und verfremdet die Töne.
... und auch die Leinwand
Neben Margaret Leng Tan gehört Ettenauer zu einer Handvoll Konzertsolisten, die zur Aufwertung des einstigen Spielzeuginstruments beigetragen haben. Dutzende von Stücken haben zeitgenössische Komponisten mittlerweile für das Toy Piano geschrieben. Erste Impulse zu einer Rehabilitierung des Instruments kamen allerdings aus Deutschland. Bernd Wiesemann hiess der Pionier. Mit gewagter Musik für das niedliche Instrument sorgte er in den 1970er-Jahren für Furore. Er öffnete dem Toy Piano die Tür zum Konzertsaal.
In den USA feierte das Toy Piano ein Heimspiel. Es war so beliebt, dass es in Film und Fernsehen Einzug hielt. Seinen eindrücklichsten Auftritt hatte es in den 1960er-Jahren in der Cartoon-Serie «Peanuts» mit Snoopy und Charlie Brown, in der das Musikgenie Schroeder fortwährend auf einem Toy Piano klimperte.
Billige elektronische Keyboards haben dem Toy Piano dann das Wasser abgegraben. Heute schlägt das Kinderherz für digitale Geräte. Da kommt sein Comeback im Konzertsaal gerade recht. Auch Filmsoundtracks haben zum Revival beigetragen. Im französischen Kinohit «Die fabelhafte Welt der Amélie» trägt die Musik von Yann Tiersen massgeblich zur skurrilen, leicht surrealen Atmosphäre der Handlung bei. Wenn es um geheimnisvoll-träumerische Klänge geht, kommt man am Toy Piano eben nicht vorbei.