Zum Video
«Um Gottes willen!», denkt man, als der Pianist Tigran Hamasyan auf seinem neuesten Video loslegt: Was ist das denn? Da spielt er eine harmlose Einleitung, lächelt freundlich-bubenhaft in die Kamera – um dann plötzlich loszulegen, zusammen mit einem Schlagzeuger, einem Bassisten und einem superpräzisen, hochkomplexen Groove. Energiegeladen wie eine Punk-Band. Und dabei virtuos wie ein klassischer Musiker.
Kaum hat man sich einigermassen erholt von diesem Energie-Schock, und von der aufwendigen und hektischen Verarbeitung im Video, gibt es einen weiteren Bruch: Eine fremde Schönheit singt in trockener Studio-Atmosphäre eine volkstümliche Melodie. Oder waren das zwei Schönheiten? Schnitt.
Und schon geht es weiter mit Tigran Hamasyan am Fender Rhodes, Tigran Hamasyan an der Melodika, Tigran Hamasyan, der scherzt und lacht und scheinbar nebenher Musik einspielt, die man so noch nie gehört hat.
Humor und Hektik, mit Haut und Haar
Keine Frage: Dieser junge Armenier ist mehr als nur ein Wunderkind. Er spielt nicht nur auf seinem Flügel und elektronischen Instrumenten, sondern auch auf der Klaviatur der ganzen Studio- und Video-Technik. Tigran Hamasyan spielt mit Effekten der Verfremdung, der Täuschung, mit schnellen Schnitten und viel Humor.
Klar, das kann auch etwas hektisch wirken. Aber: Da brennt einer für seine Musik, da gibt sich einer seiner Kunst hin, mit Haut und Haar. Und dabei ist das Erstaunlichste noch nicht einmal die überbordende Energie. Die lässt sich sogar relativ einfach erklären mit dem Wunsch, den schon der dreijährige Tigran Hamasyan gehabt haben soll: Trash-Metal-Gitarrist zu werden.
Neben dem Flügel steht ein Fender Rhodes
Nein, das Erstaunlichste ist, dass Tigran Hamasyan als Format für seine Inhalte das Klavier-Trio wählt, das heisst im Jazz: Die Formation Klavier-Bass-Schlagzeug. Das hat sehr viel mit Tradition zu tun. Kaum ein grosser Pianist von Art Tatum über Bill Evans bis Keith Jarrett, der in diesem Format nicht grosse Meilensteine in die Landschaft gelegt, kaum ein Jazzpianist überhaupt, der sich nicht einmal in seinem Leben in dieser Form versucht hätte. Aber ein solches Punk-Trash-Jazz-Energiebündel und Klavier-Trio?
Und doch ist das Klavier-Trio für Tigran Hamasyan auch logisch. Von dieser Besetzung ausgehend, kann er alle traditionellen Spielformen ebenso bedienen wie die neuen Töne, die ihm vorschweben. Neben dem Flügel ein Fender Rhodes aufgestellt, mit einigen elektronischen Effekten verschlauft, auf dem Flügel ein Synthesizer und ein Mikrofon für die eigene Stimme – schon hat Tigran Hamasyan auch auf der Bühne das meiste zur Verfügung, was er im Studio so virtuos übereinanderschichtet.
Die Musik von Tigran Hamasyan ist also nicht nur ein Studio-Zaubertrick, sondern eine sehr spielbare, wenngleich etwas verrückte musikalische Vision. Und sie funktioniert. Auf dem Video – und live im Konzert.