Der Junge aus der New Yorker Bronx hatte ein fantastisches Gehör und eine untrügliche Erinnerung. Was er einmal gehört hatte, das konnte er jederzeit abrufen und fehlerfrei spielen. Die Grossmutter und die Tante hatten ihm klassischen Klavierunterricht gegeben. Sein Vater Kenny Drew senior, ein berühmter Jazzpianist, lebte irgendwo in Europa, meist in Kopenhagen. Kenny hatte kaum Kontakt zu ihm.
Was seine Erzieherinnen – die Grossmutter und die Tante – unter allen Umständen verhindern wollten, trat dann doch ein: Der Junge, der sich als überragendes Klaviertalent erwies, schlug sich als Pianist durch. Kenny Drew jr. spielte in Funk- und Rhythm and Blues-Bands und spätnachts auch Jazz. Kein Wunder, dass er 1990 schliesslich beim Jazzwettbewerb von Jacksonville in Florida als Sieger auf sich aufmerksam machte.
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Ein Spätzünder im Plattengeschäft
Hatte Kenny Drew jr. mit 30 gerade mal ein erstes Album als Leader vorzuweisen, waren es zwischen 1990 und 2000 bereits zehn CDs unter eigenem Namen. Abgesehen von zahlreichen Produktionen, bei denen er als Sideman auftrat.
Das Klavierspielen, das Musikmachen war seine Leidenschaft. Die organisatorischen Belange des Bandleaders lagen ihm weniger, weiss sein langjähriger Freund, der Schweizer Komponist und Saxophonist Daniel Schnyder: «Dafür zu sorgen, dass etwa das Klavier eins a gestimmt wurde, oder den finalen Mix für die CD zu überwachen – das war nicht so sein Ding.»
Als grossen Glücksfall für seine Arbeit in den USA bezeichnet es Schnyder, dass er in New York auf Kenny Drew jr. stiess. Drew brachte aus seiner Arbeit mit Top 40-Bands das Blues-Feeling und die erdigen Akkorde mit, hatte aber dank seiner klassischen Virtuosität auch die besten Voraussetzungen, um etwa live auf dem Podium ein Fugato zu improvisieren. Und er kam bestens mit den für Jazzmusiker ungewohnten Harmonien zurecht, die Schnyder hin und wieder verwendet.
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Je komplizierter, desto besser
Die schiere Brillanz von Alben wie «Da skale» (2002), die stilistische Gratwanderung seiner «Worlds Beyond Faust» (2010) hätte Schnyder ohne seinen Traumpartner Kenny Drew jr. kaum realisieren können. Schnyder erwähnt auch die Mitarbeit von Drew in der Mingus Big Band: «Gunter Schuller hat gesagt, dass Kenny der einzige war, der wirklich notengetreu spielen konnte, was in den Charts für ‹Gunslinging Birds› (1994) stand.»
Bereits der Schlusstrack auf dem vierten eigenen Album «A Look Inside» (1992) zeigt Kenny Drew jr. als virtuosen Trio-Pianisten, der tief in der Jazztradition wurzelt. John Coltranes «Giant Steps», wozu den Mitmusikern bei der Erstaufnahme 1959 nur pianistisches Gestammel gelang, ist immer noch eine Hürde, die es zu nehmen gilt. Unter Kenny Drew jr.s Fingern werden die «Giant Steps» zu Pirouetten, Flipflops, Saltos.
Eine starke linke Hand, ein scharfes Musikgedächtnis für alle Klänge zwischen Bach und Thelonious Monk. Dazu die Fähigkeit, jede Idee traumwandlerisch sicher in Klavierklänge umzuwandeln. Kenny Drew jr. mag manche seiner Zuhörer durch die Flut von Tönen überfordert haben. Aber er konnte auch in hohem Tempo noch originell bleiben, ohne der Schablone zu verfallen. So virtuos muss ein moderner Jazzmusiker sein dürfen.