Eigentlich hat niemand Robert F. Graettinger wirklich gekannt. Fast alles, was über ihn geschrieben wurde, basiert auf «déjà entendues»: Dieser habe erzählt, jener soll dies und das gesagt haben. Und: Alle diese Geschichten sind mittlerweile über 60 Jahre alt.
Bei diesen Erzählungen kommt einem unweigerlich Carl Spitzwegs Bild vom «Armen Poeten» in seiner Dachkammer in den Sinn. Graettinger soll in einem winzigen Raum über einer Garage gehaust haben, mit einem Kleinklavier, einer Matratze am Boden und einem Tisch.
Randexistenz zu einem Hungerlohn
Der Komponist aus Kalifornien habe immer den gleichen verschlissenen blauen Anzug getragen, mit einem Strick statt einem Gurt, und habe sich im Wesentlichen von Zigaretten, Alkohol und Junk-Food ernährt. Er habe zwölf bis vierzehn Stunden täglich über seinen Partituren gebrütet, sieben Tage in der Woche. Das Angebot seines Arbeitgebers Stan Kenton, den Wochenlohn von 25 Dollar zu erhöhen, habe er strikt abgelehnt.
Der zuverlässigste Zeuge dieser randständigen Existenz war der Saxophonist Art Pepper, seinerseits schwerer Junkie. Die beiden scheint eine Art Wahlverwandtschaft verbunden zu haben. Wobei auch Pepper betont: Gekannt habe er seinen Freund nicht wirklich.
Ein besessener Tüftler und Sucher
Aber eine Aussage Art Peppers führt mitten in die Musik Bob Graettingers. Graettinger stand auf der Lohnliste des Bandleaders Stan Kenton, und war bei den endlosen Tourneen von dessen Big Band meistens dabei. Die Band spielte One-Nighters, einen Gig, eine lange Busfahrt und dann den nächsten. Graettinger habe in jedem der zahllosen Konzerte jeweils nur einem einzigen Musiker ganz konzentriert zugehört, ihn aus der Klangmasse versucht herauszufiltern, um seinem Klang und seiner Art zu spielen auf die Spur zu kommen. Sein Ziel war es, nicht für ein Orchester zu schreiben, sondern für musikalische Individuen.
Bob Graettinger wurde 1923 in Ontario, Kalifornien geboren. Mit neun begann er Saxophon zu lernen, um mit sechzehn als professioneller Musiker zu arbeiten. Der bekannteste seiner Arbeitgeber war Saxophonstar Benny Carter, für dessen Band er zu arrangieren begann. Graettingers Begeisterung für die Band von Stan Kenton setzte früh ein: Ein erstes Mal soll er sich 1941 mit Arbeiten bei ihm vorgestellt haben. Nach einem Kompositionsstudium an der Westlake School of Music schrieb er seinen Erstling für Kenton, «Termopylae», benannt nach einem Schlachtenort im alten Griechenland. Die Schlacht ist durchaus auch musikalisch zu verstehen.
Ein Vorreiter der graphischen Notation
Graettinger hatte keine Angst vor Pathos. Die Kenton-Band, bekannt für ihre lärmigen und wuchtigen Blechbläser-Orkane, war genau das, was der Komponist wollte. Seine Musik hat wenig Jazzmässiges im Sinn von Swing oder Improvisation, es sind ausgeschriebene Partituren. Meistens benutzt Graettinger die konventionelle Notenschrift. Seine Skizzen allerdings sind graphische Notationen, sie gleichen zuweilen Bauplänen.
Die Klangsprache hat durchaus Ähnlichkeit mit derjenigen von Komponisten der zweiten Wiener Schule, Alban Berg und Anton Webern. Graettingers Idee allerdings, für Musiker zu schreiben, ist zutiefst jazzmässig – so arbeitete auch Duke Ellington.
«City of Glass» nahm den «Third Stream» vorweg
1948 nahm Bob Graettinger sein Opus Magnum in Angriff, die viersätzige Suite «City of Glass». Stan Kenton hatte kurz zuvor seine «Innovations in Modern Music» ausgerufen, ein Komponist wie Graettinger kam da genau richtig. «City of Glass» wurde in Chicago uraufgeführt. Es war ein rauschender Erfolg, allerdings nicht bei Jazzfans, sondern bei einem jungen und konzertgewohnten Bildungsbürger-Publikum.
Graettinger schrieb weiter für das Stan Kenton Orchestra, und alles, was er lieferte, wurde aufgenommen. Mittlerweile hatte Kenton der Big Band einen Streichersatz hinzugefügt, Graettinger und seine Kollegen konnten buchstäblich schreiben, was sie wollten. 1953 ging Kenton allerdings beinahe Konkurs mit seinem Unternehmen, er verkleinerte das Orchester wieder, und von da weg gab es auch keine Stücke von Bob Graettinger mehr. Ob sie doch zu schräg waren und das Publikum allzu sehr verschreckten, bleibt Spekulation.
Schmales Werk, verschollene Reste
Robert Graettinger starb 1957 nach einer Lungenkrebs-Operation, er wurde nur gerade 34 Jahre alt. Er soll mitten aus den Arbeiten an einem klassischen Septett herausgerissen worden sein. Forrest Westbrook, ein Freund Graettingers, sagte, die ersten zwei Sätze seien fertig gewesen, er selber habe noch versucht, das Stück zu komplettieren. Um 1967 habe er die Noten an Kenton zurückgegeben.
Später sei einmal jemand an Stan Kenton gelangt, um die Partitur anschauen zu können. Der aber wusste nichts davon, sie blieb verschollen. So gibt es heute also ganze 63 Minuten Graettinger-Musik auf CD. Doch auch mit nur einem so kurzen Vermächtnis stimmt das Urteil von Graettingers altem Buddy Art Pepper: «Bob Graettinger was a genius!»