Lieber Herr Verdi
Leider wird dies kein erfreulicher Brief für Sie. Aber damit eines klar ist: Müsste ich die zehn grössten Opern aufzählen, so wäre Ihr «Falstaff» darunter. Und müsste ich die zehn grössten geistlichen Werke aufzählen, so wäre Ihre «Messa da Requiem» darunter.
Abgesehen davon aber bin ich leider kein Verdi-Fan. Dem ersten Ihrer zwei Dutzend Opern würde ich keine Träne nachweinen, wenn sie von heute auf morgen verloren gingen. Krude Handlungen mit – entschuldigen Sie! – oft kruder Musik.
Doch generell habe ich vor allem meine Probleme mit der Qualität der Libretti, die Sie vertonten. Wie kann man, frage ich mich, eine Oper nach der andern komponieren, die alle im Schnitt mit ein bis zwei Toten enden? So sei eben die Welt, sagen Sie mit Ihrer pessimistischen Weltanschauung vielleicht. Wohin man blickt: Intrigen, Verrat, soziale Ungerechtigkeit, Brutalität, Mord und Selbstmord eben, manchmal auch nur wegen eines blöden Zufalls.
Obwohl es das alles in der Welt gibt – in Ihrer wie auch in unserer 150 Jahre später –, meine ich: Nein, so ist die Welt nicht. So sind die Klischees des romantischen Schauerdramas, an dem sich Ihre Librettisten orientierten. Was konnte einen Komponisten wie Sie daran reizen? Gut, am Anfang Ihrer Karriere, während Ihren sogenannten «Galeerenjahren», da konnten Sie nicht wählen. Da mussten Sie vertonen, was gefragt war, und gefragt waren eben Schauergeschichten.
Jedoch, auch später, als der grosse Erfolg da war und Sie ein wichtiges Wort bei der Auswahl der Stoffe mitzureden hatten, da ging es oft im gleichen Stil weiter. Manchmal war es Ihnen allerdings dann doch auch zu viel: So wünschten Sie nach der Uraufführung von «La Forza del destino», dass die Anzahl der Leichen von drei auf zwei reduziert werde.
Damit sind wir bei jenen Ihrer Opern, die als Ihre Meisterwerke gelten, bei denen ich aber oft hin- und hergerissen bin: oft hingerissen von Ihrer Musik und oft daraus herausgerissen von der Handlung. Wie kann ein Politiker und Feldherr wie Ihr Othello so eifersüchtig und dumm sein, dass er Jagos Intrige nicht einmal im Ansatz durchschaut? Oder die Schlussszene von «Aida»: Zu schönstem Gesang sterben da zwei Liebende in einem unterirdischen Kerker – verhungernd, verdurstend, erstickend? Und das Publikum delektiert sich an ihrer Musik, die natürlich auch mir die Tränen in die Augen treibt. Oder der Schluss von «Don Carlo»: Was hat Sie denn dazu gebracht, im letzten Moment noch Schillers Vorlage mit einer völlig unplausiblen Wendung zu ruinieren?
Doch damit genug geklagt, kritisiert, gemäkelt. Es bleibt dabei: Ein Verdi-Fan bin ich nur dann und wann. Wie bereits gesagt: Müsste ich aber die zehn grössten Opern aufzählen, so wäre Ihr «Falstaff» darunter. Und müsste ich die zehn grössten geistlichen Werke aufzählen, so wäre Ihre «Messa da Requiem» dabei.
Mit besten Grüssen, Maestro,
Ihr Roland Wächter