«Magst du Vivaldis Jahreszeiten spielen?», soll Midori Seiler von Folkert Uhde, dem künstlerischen Leiter des Radialsystems Berlin, gefragt worden sein. Und Uhde legte – weil sie zögerte – gleich nach: «Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola aus der Compagnie von Sasha Waltz wird daraus ein choreographiertes Konzert machen.»
Bedeckt mit Spitzentüchlein
Und Midori Seiler mochte. Das war vor sieben Jahren und seither wird dieser getanzte Vivaldi gespielt und gespielt und gespielt. Ob in Spanien, Wien oder an Festivals in Frankreich: Das Publikum ist begeistert und berührt, wenn zu Vivaldis Musik im Winter der Schnee rieselt und die Geigerin nach und nach mit weissen Kunstflocken eindeckt. Oder wenn sie im Herbst auf die Leiter klettert und oben ihre virtuosen Soli spielt, im Sommer Schatten unter einem Spitzentüchlein sucht. Und wenn sich im Frühling die Musikerinnen und Musiker des Orchesters, die Akademie für alte Musik Berlin, wie junge Bäume im Wind mit den Bögen über die Körper streichen.
Egal, ob sie geigend auf den Schultern des Choreografen sitzt, geigend mit den Füssen im Wasser steht oder gar geigend herumgewirbelt wird: Midori Seiler kann es in allen Lebenslagen.
Gegen jede Art von Routine
Dahinter steht der Wunsch, gegen die fixen Erwartungen des Publikums und gegen jede Art von Routine anzuspielen. Was sie möchte, ist die Überraschung, das Un-Erhörte hörbar machen, das Hier-und-Jetzt. Selbst in einem so abgenudelten Werk wie Vivaldis «Vier Jahreszeiten».
Warum? Midori Seilers Antwort – nach reiflicher Überlegung: «Weil mir das Einfache oft nicht interessant genug ist.» Und fügt dann aber noch hinzu, dass es ja auch darum geht, in sich selbst neue Räume zu suchen, zu entdecken und aufzumachen.
Frau der Gegensätze
Midori Seiler vereint mit Grazie und Selbstverständlichkeit viele Gegensätze in sich. Das fängt bereits bei ihrem Namen an: Das japanische Midori bekam sie von ihrer Mutter, während Seiler vom bayerischen Vater stammt. Mit diesem multikulturellen Hintergrund wächst sie in Salzburg auf, lernt dort das ausgegrenzt werden kennen und was es heisst, wenn die Leute mit dem Finger auf einen zeigen.
Als Kind von zwei klavierspielenden Eltern wählt sie Geige und holt sich ihr Konzertexamen in London und an der Musik-Akademie in Basel. In Basel erspielt sie sich in jungen Jahren, «und weil ich Geld verdienen musste», eine Orchester-Stelle. Horst Stein, der damalige Chef des Sinfonieorchesters Basel, lässt sie aus Brahms' erster Sinfonie Blatt spielen, worauf sie sogleich einen Platz unter den ersten Geigen bekommt.
Der Barock ist ihr Leben
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Gleichzeitig studiert sie an der Schola Cantorum bei Thomas Hengelbrock barocke Geige und entdeckt hier ihre Berufung. Das spontane, das zu entdeckende, das gestisch-sprechende und das unhierarchische Musizieren des 17. und 18. Jahrhunderts ist es, womit sie fortan ihr Leben verbringt.
Und wenn ein ungerades Mal die Lebenslage so schief wird, dass es dann doch schwierig wird mit dem Geigen, dann holt sie Bach hervor. Mit ihm kommt sie auf jeden Fall wieder ins Lot. Er sei ihr Seismograph für alles, was gerade innerlich stattfinde. Und gleichzeitig auch ein Regulativ, um wieder zum Punkt zu kommen.