«Focus USA» hiess das Motto der diesjährigen «Tage für Neue Musik Zürich»; das Kompakt-Festival wird alljährlich von der Stadt Zürich unter wechselnder künstlerischer Leitung ausgerichtet. Diesen November präsentierte der künstlerische Leiter Moritz Müllenbach ein halbes Dutzend Komponisten aus den USA, die meisten der jüngeren Generation angehörend.
Der «Urvater» hinterlässt den stärksten Eindruck
Den stärksten Eindruck hinterliess jedoch der älteste unter ihnen: Charles Ives, der «Urvater» der US-amerikanischen Musik, mit seiner 4. Sinfonie, die schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts entstand. Für grosses Orchester, Fern-Ensemble und Chor ist sie komponiert, doch die Klänge sind meist delikat und nuanciert instrumentiert.
Nur gelegentlich, dann aber umso wirksamer, geht der Komponist ins Volle, lässt manchmal auch die Rhythmen und Metren gegeneinander ankämpfen. Da «kniete» sich Dirigent David Zinman dann mit schwungvollem Körpereinsatz in die Musik und liess sich bei den Gegenrhythmen und -metren von zwei Hilfsdirigenten unterstützen.
Leuenberger kommt mit dem Velo
Bei der «Musique pour les souper du Roi Ubu» von Bernd Alois Zimmermann trat David Zinman hingegen mit einem andern Assistenten auf: Hinter dem Dirigenten betrat alt Bundesrat Moritz Leuenberger mit einem Velo das Podium der Tonhalle; das Velo parkierte er gleich neben dem Dirigentenpult.
Kein medienwirksamer Einfall des alt Bundesrats, sondern des Komponisten: Zwischen den Sätzen seiner extensiven Klangcollage, die von Bach bis Stockhausen nichts auslässt, verlangt der Komponist aktuelle «Couplets», scherzhafte Strophengedichte, eines Conférenciers, der ausdrücklich mit Fahrrad auftreten soll. Was zur Entstehungszeit der «Musique» 1966 im gediegenen Ambiente des Konzertsaals gezielt provozieren sollte, sorgt heute eher für Belustigung. Biss hatten dagegen Moritz Leuenbergers «Couplets»: Bei den besten Texten hatte der Ex-Bundesrat beispielsweise nichts anderes zu tun, als ausführlich aus einer Bundesverordnung zu zitieren.
Junge Komponisten erklären ihre Arbeit
Natürlich waren die Konzerte der «Tage» nicht durchwegs ein Gaudi dieser Art. Die meisten der jüngeren Komponisten und Komponistinnen nahmen sich und ihre Musik im Gegenteil sehr ernst.
Bei einem Konzertgespräch im Theater Rigiblick erklärten einige ausführlich, wie sie zu neuen Kompositionen gelangen, mit Weiterentwicklung früherer Aufnahmen, computerisierten Umwandlungsprozessen von Klängen im Raum und weitere ähnlichen «Live Processing Techniques». Das ist spannend, und manchmal entsteht dabei auch spannende Musik.
«Partial Knowledge»
Und dann jener Komponist, der wortreich erklärte, dass er ein Stück für Ensemble schreiben sollte und bei der Komposition feststellte, dass er gar nicht wusste, was er für Ensemble schreiben sollte. «Partial Knowledge» nannte er dann das Stück.
Und so hörte sich das Resultat dann auch an: wie das Stück eines Komponisten, der bei der Komposition eines Stücks für Ensemble feststellt, dass er gar nicht weiss, wie er ein Stück für Ensemble schreiben soll. Ärgerlich im Konzert – aber wer weiss, nachträglich vielleicht so witzig wie Bernd Alois Zimmermanns Collage?
Das Land der unbeschränkten Möglichkeiten
Die USA zeigten sich im Lauf der drei «Tage» immer deutlicher und nach wie vor als das Land der fast unbeschränkten Möglichkeiten: Da war die Popmusik, mit der der Schweiz-Amerikaner Virgil Moorefield seinen Film «Chakras Rising» live begleitete; die fein ausgehörte Musik von Gene Coleman zum Film «Spiral Network», pendelnd zwischen westlich-modernen und östlich-traditionellen Klängen; die zart oszillierende Klangfläche «Form III» von James Tenney; das unsichtbar schwingende Monochord, bald summend, bald singend, bald pulsierend, der Klanginstallation «Music on a Long Thin Wire» von Alvin Lucier. Und natürlich die röhrenden, heulenden, dröhnenden, krachenden Schiffssirenen der «Maritime Rites» von Alvin Curran, die das Festival akustisch weithin hörbar im unteren Seebecken eröffneten.