Der Hotelier des Attergauhofs wusste gleich Bescheid: «Jaja, Herr und Frau Harnoncourt haben öfter ihre Gäste bei uns, wenn sie mit ihnen etwas proben. Kürzlich war auch der Lang Lang bei ihnen. Und wir haben hier in der Stadt einen Nikolaus-Harnoncourt-Saal, wo er auch schon einmal dirigiert hat.»
Zwischen Salzburg und Linz liegt die Kleinstadt, wo Alice und Nikolaus Harnoncourt einst ein altes, leerstehendes Pfarrhaus kauften und im Lauf der Jahre sanft renovierten. Zwei Matratzen sollen nach dem Kauf das erste Mobiliar des Hauses gewesen sein …
Heute ist das grosszügig dimensionierte Haus so eingerichtet, dass Harnoncourt dort mit einem ganzen Sängerensemble «in Klausur» proben kann.
Der Dirigent und seine Ehefrau und Beraterin sind zwar in ihrem neunten Lebensjahrzehnt noch rüstig, aber sie verreisen nur noch für einige wenige ausgewählte Konzerte im Jahr: nach Wien, Berlin, Graz, Salzburg.
Immer wieder Mozart
Diese Konzerte aber haben es in sich und sorgen für Überraschungen aller Art. So mochte man sich etwa denken, der Dirigent habe mit zwei früheren Aufnahmen schon alles zu Mozarts letzten Sinfonien 39-41 gesagt. Doch dieses Jahr kommt noch eine dritte Aufnahme hinzu: die erste mit Harnoncourts eigenem Ensemble Concentus musicus Wien. Und nochmals ist alles anders – wie früher schon!
Harnoncourt sieht die drei Sinfonien als ein einziges zusammenhängendes Werk. Und so beginnt beispielsweise die Nr. 40 kaum als der Schlussakkord der Nr. 39 verklungen ist. Da öffnen sich manchen die Ohren und andern sträuben sich die Haare. Nie lassen einen Harnoncourts Interpretationen gleichgültig.
Wenn einem die Ohren aufgehen
Immer wieder war Nikolaus Harnoncourt im Lauf seiner Karriere für solche Überraschungen gut. So dachte man sich einst, die Interpreten der Alten Musik würden sich mit dem Repertoire bis etwa 1800 begnügen – also bis Haydn und Mozart.
Doch Harnoncourt preschte ins 19. Jahrhundert vor und unterzog die Sinfonien Beethovens, Schuberts, Schumanns und Mendelssohns einer Radikalkur. Da verging Manchen das Sehen und Hören, und anderen gingen die Ohren für diese Musik erst so richtig auf.
Verrat und Anbiederung?
Und als die Orchester und Ensembles mit den Originalklang-Instrumenten sich etabliert hatten und ihrerseits schon fast zur Norm geworden waren, da machte Harnoncourt wieder eine Kehrtwende.
Er ging daran, genau dieses sinfonische Repertoire mit den traditionellen Sinfonieorchestern aufzuführen – von den Wiener bis zu den Berliner Philharmonikern. Was natürlich prompt auch als Verrat an seinem eigenen Ideal und als Anbiederung an den Kommerz ausgelegt wurde.
Und dann kam noch die immer mehr zu Tag tretende Neigung zur leichten Muse hinzu, zur Musik von Johann Strauss, Jacques Offenbach und George Gershwin! Wie ging das denn zusammen mit Bach und Beethoven, Brahms und Bartok?
Und es bleibt dabei: Auch mit 85 sorgt Nikolaus Harnoncourt (* 6. Dez. 1929) für Überraschungen. Gleichzeitig mit den Mozart-Sinfonien erscheinen in einer neuen Einspielung zwei Mozart-Klavierkonzerte mit dem glamourösen und für manche dubiosen Klavierstar Lang Lang. Auch mit Lang Lang probte Harnoncourt mehrere Tage bei sich zuhause, und zwar auf einem historischen Fortpiano des frühen 19. Jahrhunderts.
Harnoncourt – der «Holzarbeiter»
Aber Nikolaus Harnoncourt hat auch Überraschungen nicht-musikalischer Art bereit: Ganz zum eigenen Vergnügen ist er auch ein passionierter «Holzarbeiter». In seiner Werkstatt stehen drei soeben vollendete Stabellen aus Zirbe. «In der Schweiz Arve», erklärt er mit einem Lächeln. Alle drei haben Rückenlehnen, die kunstvoll in der Art eines alten Chorgestühls geschnitzt sind.
In Arbeit ist derzeit ein noch ambitionierter gestalteter vierter Stuhl: Seine Rückenlehne besteht aus den beiden Ringen einer in sich gedrehten Moebius-Schlaufe mit teils realistischen, teils phantastischen Tierfiguren. Natürlich fragt Nikolaus Harnoncourt seine Besucher zuerst, ob sie überhaupt wissen, was eine Moebius-Schlaufe ist …