Als Vítězslava Kaprálová vor dem Orchester steht und den Taktstock hebt, lächeln die Männer an ihren Instrumenten süffisant. Doch sie begreifen im Laufe der Arbeit: Da vorne steht nicht einfach nur eine dirigierende Komponistin, da vorne steht eine Hochbegabte. Und als die Probe zu Ende ist, klatschen sie ihr zu.
Die Szene ereignete sich in den 1930er-Jahren. Standing Ovations gab es auch, als das Konzert im Februar 2015 im Janáček-Theater in Brünn zu Ende war. Einerseits für die tschechisch-schweizerische Dirigentin Olga Machonova Pavlu und ihre Truppe, die Brünner Philharmonie. Andererseits aber auch posthum für die Musik der Komponistin Vítězslava Kaprálová, die 1915 in Brünn das Licht der Welt erblickte.
Das Talent in die Wiege gelegt
Vítězslava Kaprálová war das Kind zweier Musiker. Ihre Mutter war Sängerin, ihr Vater Komponist und Schüler von keinem geringeren als dem tschechischen Komponisten Leoš Janáček. Die Tochter war also mehr als gesegnet mit Begabung. Bereits mit neun Jahren schreibt sie erste eigene Stücke. Mit 15 beginnt sie zu studieren, zuerst daheim an der Musikhochschule in Brünn, später in Prag, wo sie Studentin des «allmächtigen» Komponisten Vítězslav Novák wird.
Doch Lehrer und Schülerin sind sich nicht immer einig: Novák ist in seiner Musiksprache eher Wagner und Brahms verpflichtet. Kaprálová, die Junge, Neugierige, Ungestüme, interessiert sich für Strawinsky und die Brüche mit der Tradition.
Mehr als nur nach einem Stossseufzer klingt dieser Briefausschnitt von Kaprálová, in dem sie das Verhältnis zum Herrn Professor beschreibt: «Die Passacaglia muss ich noch fünf Mal überarbeiten. Er ist sauer auf mich, nur weil ich nicht sage: ‹Ja, Maestro, selbstverständlich, ach ja, entschuldigen Sie, werde ich korrigieren›, sondern ‹Maestro, dies habe ich so gemeint und dieses Motiv will ich so!› Diese Art ist ihm nicht recht, denn es interessiert ihn nicht, was ich meine.» Doch für ihre Abschlusskomposition, eine Militärsinfonietta, bekommt sie Bestnoten. Sie erhält ein Stipendium in Frankreich, packt ihre Koffer und zieht 1937 nach Paris.
Ein tschechischer Zirkel in Paris
Nadja Boulanger heisst ihr Ziel in Paris: die Grande Dame der Musik, die selber auch Dirigentin und Komponistin war – und als berühmt-berüchtigte Lehrerin an der Rue Ballu im neunten Arrondissement ihre prominente Schülerschar unterrichtete. Aber so weit kommt es nicht.
Denn Vítězslava Kaprálová spricht zwar nebst ihrer Muttersprache auch etwas Deutsch und Englisch, aber kein Französisch. So schreibt sie sich eben am Conservatoire in der Dirigier-Klasse von Charles Munch ein. Zum Dirigieren, wird sie sich gesagt haben, brauche ich vor allem meine Hände. Bereits ein Jahr nach Ankunft in Paris dirigiert sie ein Konzert und führt in einer Art Heimweh-Konzertprogramm Werke ihrer Landsleute Bohuslav Martinů, Leoš Janáček, Josef Suk und Vítězslav Novák auf.
Überhaupt pflegt sie in Paris intensiven Kontakt mit andern Tschechen, insbesondere mit Bohuslav Martinů, der bereits über zehn Jahre in der französischen Hauptstadt lebt und sich sicher in der Kultur und Sprache bewegt. Martinů nimmt eine Art Beraterrolle für die jüngere Kollegin ein. Denn nach wie vor sind ihre Werke übervoll mit musikalischen Ideen. «Vítězslava Kaprálová liebte die grosse Geste, das grosse Orchester, den grossen Sound», so die Dirigentin Olga Machonova Pavlu rückblickend.
Weniger ist manchmal mehr
Bohuslav Martinů bringt ihr bei, wie man ökonomischer mit den eigenen Mitteln umgeht und dass weniger manchmal auch mehr sein kann. So stellt er ihr die Aufgabe, ein Konzert für Klavier zu schreiben und das begleitende Orchester auf die Streichinstrumente zu reduzieren. Die Partita, die entsteht, ist eine Art Gemeinschaftswerk, und Martinů bekennt einmal, dass er vielleicht ein bisschen zu viel eingegriffen hätte.
Beim gemeinsamen Arbeiten und Studieren – Vítězslava Kaprálová hat übrigens auch seine Werke kritisch angeschaut – kommen sich die beiden näher und für kurze Zeit sind sie eines von Paris exotischen Künstlerliebespaaren. Doch Kaprálová ist realistisch genug, dass es mit dem älteren und bereits verheirateten Martinů keine gemeinsame Zukunft geben wird. Sie trennt sich von ihm und heiratet kurze Zeit später den Dichter Jiří Mucha, den Sohn des Malers Alfons Mucha. Gemeinsam möchten die beiden 1940 Frankreich verlassen. Doch als sie in Montpellier ihre Ausreise in die USA vorbereiten, stirbt Vítězslava Kaprálová an Tuberkulose. Sie war 25 Jahre alt.
Traditionell und modern
In den nur sechs Jahren ihres Schaffens, so die Dirigentin Olga Machonova Pavlu, hat Kaprálová ein Riesen-Oeuvre geschaffen und in allen Gattungen – ausser der Oper – komponiert. «Beethoven und Brahms zum Beispiel hatten mit 25 noch keine Sinfonie komponiert.»
Kaprálová bediente die Tradition und verarbeitete die Volksmelodien ihrer Heimat. Und genauso nahm sie die neuen Strömungen, die sie in Paris entdeckte, auf und machte sie zu ihrer eigenen Musiksprache.