38 Aufnahmen von fast so vielen Dirigenten, entstanden von 1948 bis 2010: Sie bilden gleichzeitig eine Geschichte der Interpretation von «Le sacre du printemps» wie auch eine Geschichte der LP- und CD-Aufnahmetechnik dieser Jahrzehnte. Denn dieses Ballett von Igor Strawinsky ist musikalisch ein Kompendium von raffinierten wie auch massiven Orchestereffekten – zu einer gelinde gesagt etwas merkwürdigen Geschichte.
Ein Mädchen tanzt sich zu Tode
Es gab und gäbe wahrlich schönere Themen für ein Ballett als dieses «Frühlingsopfer»: In seinem «Feuervogel» hatte Strawinsky zuvor eine romantische russische Legende vertont, in «Petruschka» ein russisches Märchen (wenn auch mit unglücklichem Ausgang).
Doch im neuen Ballett sollte es etwas ganz anderes sein: In grauer Urzeit feiert und begrüsst ein heidnischer Stamm den Frühling mit Tänzen und Kampfspielen. Der orgiastische Höhepunkt ist der Tanz eines Mädchens, der «Erwählten», die sich – als Opfer an den Frühling – zu Tode tanzt. Ziemlich befremdlich, nicht wahr?
Sendungen zum Thema
So fragt es sich denn auch, was den Skandal der Uraufführung 1913 denn eigentlich auslöste. Wirklich nur die zugegeben neuartige und auch etwas gezielt brutale Musik?
Tatsache ist, dass ein Jahr später eine rein konzertante Aufführung ein grosser Erfolg war. Oder war es die Choreographie von Vaclav Nijinsky? Er brüskierte auf jeden Fall die Ballettomanen mit einem absichtlich primitivistischen Tanzstil: Die TänzerInnen mussten beispielsweise mit einwärts gedrehten Füssen tanzen.
Auf den Skandal folgt der Erfolg
Und da war noch der Impresario Sergei Diaghilew. Er wusste, dass ein Skandal für seine «Ballets russes» immer gut war. So heizte er die Erwartungen vor der Premiere mit Interviews gezielt an. Und ausserdem lud er eine grosse Gruppe von Studenten in die Vorstellung ein, die dort für «Stimmung» sorgen sollten.
Und so kam es ja dann. Aber mit dem Skandal kam auch der beispiellose Erfolg. Arnold Schönberg spöttelte zwar «Es gibt keinen sackeren Weg als den Sacre». Doch Strawinskys Musik hat mittlerweile durch die Generationen so unterschiedliche Komponisten beeinflusst wie Bela Bartók und Sergei Prokofiew, Olivier Messiaen und Pierre Boulez, Steve Reich und Harrison Birtwistle.
38 Aufnahmen aus 6 Jahrzehnten
Kaum ein Dirigent liess und lässt es sich nehmen, dieses Werk zu dirigieren und wenn möglich auch aufzunehmen – gern auch mehrmals. Die «100th Anniversary Collectors Edition» bietet 38 Orchesteraufnahmen mit fast allen wichtigen Dirigenten- und Orchesternamen des 20. Jahrhunderts, vom Uraufführungsdirigenten Pierre Monteux bis zum Jungstar Gustavo Dudamel. Dazu kommen noch drei Aufnahmen der Fassung für zwei Klaviere.
Ein Zusammenschnitt von sieben verschiedenen Aufnahmen macht einen Schnelldurchlauf durch sechs Jahrzehnte «sacre du printemps» möglich – und hörbar. Die folgenden Angaben beziehen sich auf das Audiofile:
Pierre Monteux, 1956 (0'00-0'36);
Herbert von Karajan, 1963 (0'36-1'07);
Georg Solti, 1974 (1'07-1'26);
Leonard Bernstein, 1982 (1'26-1'47);
Pierre Boulez, 1991 (1'47-2'05);
Esa-Pekka Salonen, 2006 (2'05-2'30);
Gustavo Dudamel, 2010 (2'30-3'08).
Umfassende Box mit einem Schönheitsfehler
Einen kleinen Schönheitsfehler hat die Box allerdings auch: Es fehlt die allererste Sacre-Aufnahme von 1929, und es fehlt eine Einspielung von Strawinsky selbst (er nahm für die Konkurrenz auf).
Dennoch lässt sich so einerseits eine Geschichte der Interpretation dieser revolutionären Musik verfolgen: Nicht zuletzt verwandelt sich das Werk im Lauf der Zeit vom Orchesterschreck zum Orchesterhit.
Andererseits zeichnet sich auch eine Geschichte der LP und der CD ab. Denn Stereo-, Mehrspur- und Digitaltechnik, aber auch wechselnde Aufnahmephilosophien brachten immer wieder neue akustische Möglichkeiten und machten den Tonmeister (fast) so wichtig wie den Dirigenten.
Claude Debussy scheint so etwas geahnt zu haben. Etwas boshaft formulierte er schon bei der Uraufführung: «‹Le sacre du printemps› ist eine ausserordentlich wilde Sache, primitive Musik mit jedem modernen Komfort.» Genau so haben wir sie heute.