Reto Bieri, Sie haben gerade Fazil Says Klarinettenkonzert «Khayyam» über das Leben und Wirken von Omar Khayyam gespielt. Als Vorbereitung haben Sie sich intensiv mit Khayyams Schriften auseinandergesetzt. Wie ist es möglich, dass ein vor rund tausend Jahren Verstorbener mit seinen Worten einen Künstler von heute in Schwierigkeiten bringt?
Khayyam hat Texte geschrieben, die topaktuell sind. Was ich von ihm gelesen habe, könnte wirklich eine Betrachtung des Lebens von heute sein. Zum Beispiel dieses Gefühl des Gespaltenseins, das er beschreibt.
Was Khayyam ausmacht, ist, dass er Fragen aufwirft. Und das interessiert mich viel mehr als jene Philosophen, die Fragen beantworten, weil ich glaube, dass die im Grunde ziemlich wenig verstanden haben. Wenn mich eine Frage berührt, wirft sie immer eine neue auf, und dann wird es meistens interessant. Offene Fragen sind bei mir herzlich willkommen.
Zwischen der Uraufführung 2011 und der Schweizer Premiere des Konzerts «Khayyam» liegen einige Ereignisse – Fazil Say wurde 2013 zu 10 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt – , die das Werk in ein anderes Licht rücken und ihm eine geradezu politische Dimension geben. Spielt das für Sie eine Rolle?
Eigentlich überhaupt nicht. Für mich ist die Politik keine Dimension, sondern ein Werkzeug, um das menschliche Leben zu organisieren. Liebe ist eine Dimension, weil sie etwas dem Leben Übergeordnetes hat. Auch die Melancholie und die Sehnsucht, die in diesem Stück vorkommen, sind universell.
Dagegen hat die Politik, dieses Sich-Einordnen und Klassifizieren in Religionen fast etwas Lächerliches. Es geht um die Fantasie, um Fantastisches. Darum, Dinge zusammenzubringen, die auf den ersten Blick vielleicht gar nicht zusammenpassen.
Das Konzert «Khayyam» will sich mehr auf die Lebensspuren der Person begeben, als die Texte wortgetreu zu zitieren. Wie setzt Fazil Say das Leben Omar Khayyams musikalisch um?
Im Kreieren einer Stimmung und eines einzigartigen Lebensgefühls, das es so nur in Istanbul gibt, einer Stadt, die mich schon seit Jahren fasziniert. Dieses Lebensgefühl nennt sich ‚Hüzün‘ und wird zum Beispiel auch von Orhan Pamuk wunderbar in seinen Büchern beschrieben. ‚Hüzün‘ ist eine Art Melancholie, eine ganz besondere Stimmung, die die Zerrissenheit Istanbuls und seiner Bewohner wiederspiegelt. Der Riss zwischen Orient und Okzident geht ja mitten durch die Stadt am Bosporus.
Und es geht Fazil Say auch ums Erzählen, das Heraufbeschwören einer Vergangenheit wie in den Geschichten von Tausendundeiner Nacht und einer fernen Zukunft, die diese Musik immer wieder wie durch ein Milchglas erscheinen lässt.
Ist denn Fazil Say, der als Pianist ja eigentlich vom Klavier her denkt, auch ein Klarinettenversteher?
Fazil ist in erster Linie ein Vollblutmusiker, ein wirklich Besessener. Und ja, das Konzert lässt sich sehr gut spielen. Aber ich verstehe die Klarinette ohnehin mehr als Instrumentarium, als Weg, um zu einem bestimmten Punkt zu gelangen. Die Palette der Möglichkeiten wird dadurch grösser und auf der Klarinette kann man ziemlich vieles machen – am liebsten das, was im ersten Moment als nicht spielbar erscheint, das ist das Beste.
Fazil Say und Reto Bieri – wie würden Sie eigentlich ihren Beziehungsstatus beschreiben?
Das klingt ja wie bei Facebook, da bin ich nicht. Wir haben uns vor vielen Jahren beim Oxford Chamber Music Festival getroffen und zusammen die Poulenc-Sonate gespielt. Bei den Proben fing Fazil an zu improvisieren, ich stieg ein und wir waren sofort auf einer musikalischen Schwingung. Also würde ich sagen: Beziehungsstatus «seelenverwandt», ja, das trifft es.