Ein typisches Haus in Brooklyn, New York. Hohe Fassade, dunkler Backstein, alles ein bisschen schmuddelig, unspektakulär. Drinnen warme Umarmungen, man lacht, trinkt Rotwein aus Tassen. Der fabulöse Charles Bradley hat eine grosse Ofenform mit noch heissem Makkaroni-Auflauf mitgebracht. Schliesslich war er mal Küchenchef in einer psychiatrischen Klinik – warum also nicht auch für die Leute von Daptone Records kochen?
Nein, verrückt sind sie nicht. Nur ein wenig aus der Zeit gefallen vielleicht, mit ihrer Vinyl- und Magnetbandverehrung. Aber die Welt hat sich in ihre Richtung gedreht. Und Retro ist das Ding der Stunde. Hightech, synthetische Sounds, Loops und Samples in Ehren, aber so handfest groovig wie eine echte Band auf echtem Band ist sonst nichts. Do it yourself. Selber fliegen statt Autopilot.
Herrlich altmodische Ladys
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Bei Daptone Records, dem «House of Soul», wird noch Musik produziert wie früher. Also gespielt. Das kleine Label ist ein audiophiles Paralleluniversum, das erstmals im Zusammenhang mit Amy Winehouse und ihrem Albums «Back to Black» Schlagzeilen machte. Man muss nicht viel von Soundtechnik verstehen, um zu begreifen, dass Maschinenmonster wie der Tascam-16-Spur-Rekorder, die Otari-MX5050-Bandmaschine oder das analoge Mischpult Trident 65 einer anderen Ära angehören. Allesamt barocke, alte Ladys – umständlich, aber irgendwie auch glamourös und herrlich unzeitgemäss. Und für Vintage-Freaks, die auf der Retrowelle surfen, pures Gold.
Aber Gabriel Roth ist kein Dogmatiker. Der Daptone-Mitbegründer, der offenbar immer Sonnenbrille und einen äusserst altmodischen Hufeisenbart trägt, liebt seine Maschinen, aber er hält nichts von nostalgischem Materialfetischismus. Er ist ein Klangperfektionist, den die Suche nach dem echten, lebendigen Sound antreibt. Und der ist eben oft gerade nicht perfekt, sondern hat Macken, Mängel, Defizite: «Mistakes are what make a track sound great.»
Ein prachtvoller Soul-Opa
Ohne Daptone Records wäre der Name Charles Bradley vielleicht nur belangloses Rauschen geblieben. Ein Soul-Opa, der sich noch immer schwitzend und schreiend als «Black Velvet» auf den Bühnen dunkler Clubs verausgabt. Der nach seinen Shows einen Augenblick lang keuchend im Beifall badet, sich dann sein Glitzercape über die Schultern wirft und wieder in die Bedeutungslosigkeit verschwindet.
Mehr als 20 Jahre lang tingelte er als James-Brown-Imitator durchs Land. Dann hörten ihn die Jungs von Daptone und hievten ihn und seinen prachtvollen Soul ins ganz grosse Scheinwerferlicht. Einen alten Mann mit zerklüftetem Gesicht. Einen, der weiss, wie es sich anfühlt, kein Zuhause zu haben und als Nigger beschimpft zu werden. Einen, der kaum Lesen und Schreiben kann. Dessen Mutter ihn im Stich liess, als er noch nicht mal laufen konnte. Und sich später dennoch liebevoll um sie kümmert, für sie kocht, ihr das Mützchen zurechtrückt und die Hände hält.
Songs aus Schweiss und Tränen
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Auch Charles Bradley scheint irgendwie aus der Zeit gefallen. Geht seinen Weg beseelt und eigenartig unversehrt. Sein Gemüse schneidet er mit derselben Hingabe, mit der er auch die Pailletten an seine Bühnenklamotten näht und zusammen mit Thomas Brenneck von der Menahan Street Band an seinen Liedern feilt. Seine Songs sind aus Schweiss und Tränen gemacht. Er singt sie auch nicht einfach nur. Er schreit, klagt, entäussert sich. Auch die erschütternden Liebeserklärungen, die er seinem Publikum zumutet, sind echt.
65 Jahre alt ist Charles Bradley jetzt. Im Januar starb seine Mutter – drei Jahre nachdem sein erstes Album bei Daptone rauskam und für den «Screaming Eagle of Soul» ein Märchen begann, das ihn selbst am meisten zu Tränen rührt. «No Time for Dreaming» verkaufte sich in den ersten Wochen besser als manch anderes Album des Labels in einem ganzen Jahr. Der Soul von James Brown gab dem Adler Rückenwind, jetzt fliegt er allein, ganz ohne Glitzercape. Auch dank Daptone.