Drei Monate vor dem Sturz von Salvador Allende komponierte der chilenische Komponist Sergio Ortega sein Kampflied «El pueblo unido jamás será vencido!» – Das vereinigte Volk wird niemals besiegt werden! Die Volksmusikgruppe «Quilapayun» machte das Lied weltweit populär.
1975 verwendete der US-amerikanische Komponist Frederic Rzewski die eingängige Melodie als Thema für seinen einstündigen Klavierzyklus mit 36 Variationen: «The People United Will Never Be Defeated» – ein musikalisches Monument des Widerstands gegen Gewalt. Heute ist der Zyklus ein Klassiker der modernen Klaviermusik.
Komposition nach mathematischem Schema
Auf 30 Variationen brachte es Bach mit den «Goldberg-Variationen», auf 33 Beethoven mit den «Diabelli-Variationen». Doch 36 Variationen mussten es sein, als Frederic Rzewski seinen Klavierzyklus über «El pueblo unido» schrieb – 6 mehr als bei Bach, 3 mehr als bei Beethoven. Anmassung? Frechheit?
Ein bisschen vielleicht schon – davon lebt ja alle neue Kunst. Andererseits auch wieder nicht: Rzewski legte sein Werk streng symmetrisch an, in sechs Gruppen à sechs Variationen. Dabei fasst die sechste Variation jeweils die vorangehenden fünf zusammen – wobei die fünf Variationen die fünf Finger der revolutionär geballten Faust symbolisieren. Die Variationen 31 bis 36 schliesslich fassen alle «sechsten» Variationen nochmals zusammen. Unter 36 Variationen geht es also nicht. Doch der Komponist wird (dennoch) nicht zum Gefangenen seines eigenen Schemas: Immer wieder bricht er es zugunsten improvisatorischer Elemente auf.
Stilistische Vielfalt
Das zeigt: Der Komponist und Pianist Frederic Rzewski ist mit allen musikalischen Wassern gewaschen. Er studierte in Harvard und Princeton, bildete sich unter anderem bei Luigi Dallapiccola in Italien weiter und spielte Klaviermusik von Karlheinz Stockhausen in Uraufführung. Er kannte also alle traditionellen und modernen Techniken und Stile. Diese verwendete er sozusagen bedenken- und rücksichtslos: Romantik, Moderne, Jazz, Minimal Music, Volksmusik klingt an, manchmal dicht nebeneinander. Nicht stilistische Einheit ist Rzewskis Ziel, sondern ein stilistischer Kosmos – «stilistischer Eintopf» sagen seine Kritiker.
Klassik als revolutionäres Mittel
Dieser musikalische Kosmos allerdings steht immer im Dienst der politischen Aussage des Werks. Das zeigt sich schon an den Vortragsbezeichnungen wie «kämpferisch», «mit Vorahnung», «kühn», «mit Entschlossenheit», «wie ein Schrei» oder auch «zärtlich, mit hoffnungsvollem Ausdruck». Dazu findet sich in der Partitur die Melodie des Solidaritätsliedes von Hanns Eisler oder des Liedes «Bandiera rossa» der italienischen Sozialisten – und immer ist der Refrain «El pueblo unido» offen oder versteckt hörbar.
Zeitgenössische klassische Musik also als Mittel des revolutionären Kampfs gegen Unterdrückung? In der Tat: lang und anstrengend ist der Weg, das erfahren alle Hörerinnen und Hörer dieses einstündigen Werks. Doch schliesslich wird der Kampf gewonnen: «El pueblo unido» erklingt triumphierend mit vollgriffigen Akkorden: Das vereinigte Volk wird nie besiegt werden! Schön wäre es, doch die Wirklichkeit verläuft meist anders. In Frederic Rzewskis «The People United» scheint jedoch wenigstens musikalisch die hell strahlende Utopie dieser Hoffnung auf.
Engagierter Interpret
Der Pianist der Konzertaufzeichnung ist Stefan Litwin; er spielte «The People United» an den Tagen für Neue Musik Zürich im November 2012. Zum Konzert steuerte er seine eigene Komposition über den Sturz Allendes bei: «Allende, 11. September 1973», in der der Pianist Allendes letzte Rede rezitiert.