Frühmorgens, wenn die Berner Altstadt noch im Tiefschlaf ist und das Bundeshaus im nebligen Dunkel liegt, übt sie. In der noch leeren Halle auf der Freitreppe, zu Füssen der Statue der drei schwörenden Eidgenossen, erklingt von weitem ein leiser, langer Ton: Ein sehr tiefes C, der tiefste Ton des Cellos.
In einem der Sitzungszimmer spielt Estelle Revaz diesen wohlklingenden Klang und geniesst die Ruhe. Sie setzt kurz ab und beginnt dann die G-Dur Solosuite von Johann Sebastian Bach.
Im Herbst wurde die international tätige Cellistin mit überraschend vielen Stimmen in den Schweizer Nationalrat gewählt.
Seither politisiert die gebürtige Walliserin im Parlament für den Kanton Genf und die Sozialdemokratische Partei (SP). Ihre erste Motion zur Bekämpfung der Armut reichte sie gleich nach ihrer ersten Session ein, weibelte engagiert für dieses Anliegen und konnte bereits einen Erfolg verbuchen: Der Nationalrat nahm die Motion an , mit deutlicher, breit abgestützter Mehrheit.
Solidarisch und engagiert
Lange war Revaz an Politik nicht sonderlich interessiert, bis sich im Frühling 2020 die Corona-Pandemie rund um den Erdball ausbreitete und zahllose Kulturschaffende an den Rand des Ruins brachte.
Als junge Cellistin war sie selbst betroffen: Konzerte wurden abgesagt, Gagen storniert. Da beschloss sie, sich für ihre Zunft einzusetzen und nahm mit führenden Politikern Kontakt auf, wie mit der damaligen BAK-Chefin Isabelle Chassot oder dem damaligen Kulturminister Alain Berset.
Da sie damals noch keine politische Erfahrung hatte und man sie in Bundesbern noch nicht kannte, musste sie sich erst Respekt verschaffen.
Sie hatte dabei das Gefühl, man würde sie als Musikerin nicht ganz ernst nehmen, sondern sie eher als cellospielende Gauklerin, auf Französisch «Saltimbanque», sehen. Sie aber drehte den Spiess einfach um und eröffnete Gespräche auch mal mit «Hier ist wieder die Saltimbanque» – worauf ihre Gegenüber sich gleich entschuldigten: «Nein, du bist eine internationale Cellosolistin, keine Gauklerin».
Mit ihrem Kommunikationstalent hat sich Revaz bereits in kurzer Zeit einen Namen gemacht. Auch ihre Autobiografie nannte sie «La Saltimbanque».
Sicherheit für Kunstschaffende
Die soziale Absicherung sowie die gerechte Bezahlung von Profimusizierenden sind für sie als Nationalrätin zu einem Kernthema geworden. Eines ihrer Ziele ist es, auch in der Schweiz ein Modell der Künstlerinnen-Sozialversicherung wie etwa in Deutschland die «Künstlersozialkasse» oder in Frankreich die «Intermittence du Spectacle» einzurichten.
Dass sie Cellistin werden will, das wusste Estelle Revaz bereits als 13-Jährige. Sie studierte in Paris und Köln und tritt seither als Solistin und Kammermusikerin auf. Ihr Repertoire erstreckt sich von den Hauptwerken des Barock bis zur zeitgenössischen Musik.
Emblematisch dafür ist ihr Soloalbum «Bach & Friends», in welchem sie Sätze aus Bach-Suiten mit Musik unserer Zeit kombiniert.
Üben im Sitzungszimmer
Nun muss Estelle Revaz ihre Zeit noch besser einteilen als früher, besonders während der Sessionen. Sie ist durch und durch Milizpolitikerin, koordiniert ihren Beruf und ihr Mandat, und freundlicherweise hat man ihr die Möglichkeit gegeben, jeweils frühmorgens in einem Sitzungszimmer üben zu dürfen.
So bringt sie nicht nur einen neuen Stil, sondern auch Musik ins Bundeshaus.