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Neue Biografie «Stell Dir vor, du gibst eine Party»

SRF-Musikredaktorin Theresa Beyer hat die neue Biografie über Udo Lindenberg gelesen – mit Kennerblick. Denn sie ist ein waschechter Udo-Fan.

Ich zögere, die neue Udo-Biografie überhaupt zu lesen. Vielleicht, weil mein Fan-Sein keinen Treibstoff braucht. Vielleicht aber auch aus Angst, ich könnte ihn plötzlich unsympathisch finden.

Theresa Beyer

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Theresa Beyer ist Musikredaktorin bei SRF 2 Kultur, unter anderem für die Sendungen «Kontext» und «Musik unserer Zeit». Sie ist in Leipzig in einer Musikerfamilie aufgewachsen und vor 11 Jahren zum Studium in die Schweiz gekommen. Und geblieben. Trotz sonst erfolgreicher Integration konnten für sie Patent Ochsner oder Züri West Udo Lindenberg nie ersetzen.

Udos Lieder begleiten mich durch das Leben. Als Kind habe ich sie auf Kassette gehört. Sie waren wie Märchen in drei Minuten.

Am liebsten mochte ich das Lied über den allergischen Vampir. Als er bei seinen nächtlichen Streifzügen auf ein Opfer mit Blutgruppe 0 Rhesus Negativ trifft, «da verzog er sein Gesicht und meinte: So ’n Mist, ausgerechnet diese Sorte vertrag' ich nicht»!

«L» wie Liebeskummer

Als Teenagerin waren Udos Lieder für mich wie ein altes Buch der Weisheiten, in dem ich nachschlagen konnte. Sehr ergiebig: «L» wie Liebeskummer. Im Lied «Und sie liebten sich gigantisch» singt Udo, dass man sich einen noch so schönen Rahmen für eine Beziehung bauen kann – wenn der Mensch nicht reinpasst, gibt es keinen anderen Ausweg, als Schluss zu machen, «… weil Menschen sind nicht aus Knetgummi».

Um das Jahr 2000 kam Udos Musik bei meinen Klassenkameraden gar nicht gut an. Sie kannten Udo nur aus dem DDR-Museum. Udo Lindenberg, ah das war der, der Erich Honecker eine Lederjacke schenkte und hartnäckig dafür kämpfte, in der DDR aufzutreten.

Oder sie kannten den Udo Lindenberg, der bei «Rock gegen Rechts» neben den Ärzten oder Deichkind irgendwie grossväterlich wirkte und nur knapp an der Schlager-Grenze vorbeischrammte. Mit den Weisheiten aus Udos Liedern meine Freunde trösten – das war mir mittlerweile peinlich. Ich stand nicht mehr zu Udo.

Udo war auferstanden

Doch 2008, ich war Mitten im Studium, plötzlich: Udo überall. Sein Comeback jetzt ganz gross. Sein 34. Album «Stark wie Zwei» schlug ein, auch bei meiner Generation.

Udo war auferstanden: von einer bundesrepublikanischen Heldenfigur aus dem Museum zu einem, der mit Jan Delay über die grossen Bühnen rockt. Nun wurde er in Deutschland auch bei den Jüngeren zu einer echten Autorität: in Sachen Deutsch-Pop, in Sachen Coolness und in Sachen radikalem Humanismus.

«Stell Dir vor, Du gibst eine Party»

Heute ist Udo 72, ich bin 32. Bei der Menge an Interviews, Udo-Specials, Udo-Musicals und Co-Produktionen fühle ich mich nicht unbedingt unterversorgt mit Anekdoten über sein Leben. Doch trotzdem lese ich die neue Biografie.

Und ich lese sie in einem Rutsch. Weil sie gleich am Anfang neue Töne anschlägt: «Stell Dir vor, Du gibst eine Party, und das Ganze dauert ein bisschen länger. Nicht bis zum Morgengrauen. Nicht zwei oder drei Tage. Eher vierzig Jahre. So genau weisst Du es nicht mehr. Es ist schliesslich eine Party, und da kann es schon mal passieren, dass man den Überblick verliert. Du konntest Dir das leisten, weil es ja Dein Beruf ist, das Leben zu feiern und Dich dabei gehen zu lassen, denn Du bist ja ein Rockstar.»

Udos Nuscheln

Auch wenn ich nicht genau weiss wer denn da eigentlich spricht: Irgendwie höre ich beim Lesen immer Udos Nuscheln. Auf den 300 Seiten fühle ich mich ihm näher als wenn ich ihn im Fernsehen sehe, wo er hinter seinen coolen Sprüchen als Mensch oft kaum zu fassen ist.

Die Biografie mit dem schlichten Titel «Udo» berührt mich dort, wo sie den düsteren Phasen nachgeht: um 2000, gerade in der Zeit als ich Udo verloren hatte, war er am Abgrund. Künstlerischer Stillstand. Panikattacken.

Buchhinweis

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Die Biografie «Udo» wurde vom Sänger zusammen mit Thomas Hüetlin verfasst und ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

Und: Seine Alkoholsucht, mit der er sonst so gerne kokettierte und auch in seinen Lieder auf und ab behandelte, steigerte sich in ein Extrem, von dem ich mir nie eine Vorstellung machte. Udo lieferte sich selbst ins Krankenhaus ein – mit einem Pegelstand von 4,7 Promille – eigentlich eine tödliche Dosis.

Der traurige Höhepunkt von Udos Alkoholkarriere. Was mir neu war: Sie begann genauso früh wie seine musikalische.

«Zum gut schwindelig werden»

Mit 13, im biederen Gronau in Westfalen an der niederländischen Grenze, wo er aufwuchs, erzählt der Udo-Biograf Thomas Hüetlin: «Bald trank Udo nach der Schule, wie er sagte ‹zwei bis drei Bier zum gut schwindelig werden› und rundete den vermeintlichen Genuss mit Filterzigaretten ab. Mit 13 Jahren gewann er den ersten Preis bei einem Nachwuchs-Jazz-Wettbewerb in Osnabrück. Er durfte sich jetzt den besten Nachwuchsschlagzeuger von Nordrhein-Westfalen nennen. Zur Feier gab es, na klar, ein paar Drinks. Er war auf Kurs.»

Aus den paar Drinks am Abend wurde später Whiskey, und zwar flaschenweise. Aber 2006, nach dem plötzlichen Tod seines geliebten Bruders, fasste Udo einen Entschluss: «Entweder ich sauf' mich tot, oder ich versuch noch einmal ein Comeback.»

Lebenshungrig und voller Melancholie

Dieses Comeback ist Udo gelungen. Und wie. Er war wochenlang in den Charts, füllte Stadien und bekam sich wieder in Griff.

Udo war wieder Udo: Die treue Seele mit richtig viel Talent, lebenshungrig, aber auch voller Melancholie und Grössenwahn. Eine hochexplosive Mischung, die es wohl braucht um die richtigen Songs zu schreiben. Songs, die helfen. Bei Liebeskummer, Weltschmerz und in anderen Lebenslagen.

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