Das Klavierkonzert «Gran Toccata» des Zofinger Komponisten Dieter Ammann gleicht einem Höllenritt mit unzähligen Akkorden pro Minute. Das Konzert wurde rund um den Globus aufgeführt und wird international als Meisterwerk gefeiert.
Ist zeitgenössische Musik aus der Schweiz ein Exportschlager? «Man darf nicht übertreiben», sagt der Musikjournalist und Kurator Thomas Meyer, der die Szene seit Jahrzehnten beobachtet. «Aber es ist erstaunlich, wie viele unterschiedliche Komponistinnen und Komponisten aus der Schweiz international gut unterwegs sind.»
Zentrum und Peripherie
Wenn man auf der Landkarte der zeitgenössischen Musik momentan einen Hotspot ausmachen will, dann ist das sicher Berlin. Viele internationale Komponisten und Musikerinnen haben sich in den letzten Jahren dort verwurzelt.
Die Schweiz wirkt da schnell als Peripherie. Anja Wernicke, die künstlerische Co-Leiterin des Festivals ZeitRäume Basel , sieht gerade das als Chance: «Es gibt hier eine grosse Vielfalt und Dichte an Formen und Formaten. Die Schweizer Szene ist weniger nach einem Strich gebürstet wie die in Berlin, wo sich vieles an einem gewissen ästhetischen Mainstream orientiert.»
In der Schweiz gibt es unzählige Ensembles, die Neue Musik spielen. Und es werden immer mehr - nicht nur in Genf oder Zürich, sondern auch in Chur oder La Chaux-de-Fonds. Durch diesen Wettbewerb ist die Qualität gestiegen. Hinzu kommt, dass in der Schweiz die Szenen für experimentelle und improvisierte Musik fliessend in die Szene der Neuen Musik übergehen, besonders in der Romandie. Das führt zu einem übergreifenden Experimentiergeist.
Neue Formate während der Pandemie
Die Corona-Pandemie hat die zeitgenössische Musik in einen dauerhaften Ausnahmezustand versetzt. Für viele Musikerinnen und Musiker bedeutet das eine sehr schwierige Situation. Aber einige konnten die Zeit auch kreativ nutzen und neue Formate schaffen. Zum Beispiel der Basler Komponist Andreas Eduardo Frank mit seinem digitalen und interaktiven Musiktheater «Super Safe Society».
Der 33-Jährige sagt, die Neue Musik habe während Corona einen Digitalisierungsschub erfahren und ihren Publikumskreis ausgeweitet. «Jetzt gibt es kein zurück mehr, die Veranstalter werden auch in Zukunft die Entwicklung von Werken antreiben, die ganz oder teilweise im Internet stattfinden, auch wenn die Pandemie vorüber ist.»
Auch vor Corona haben sich bestimmte Strömungen der Neuen Musik der digitalen Kultur verschrieben. «Jetzt hat es nicht mehr gereicht damit nur zu liebäugeln, jetzt mussten die Komponistinnen zeigen, was Qualität bedeutet. Das ist eine Zeitenwende», sagt der Musikjournalist Thomas Meyer.
Die Neue Musik und der grosse Orchesterklang
An der einen Seite des Spektrums sind Komponisten wie Andreas Eduardo Frank, die multimedial arbeiten. Auf der anderen Seite gibt es die Komponistinnen, die sich mehrheitlich dem Orchesterklang widmen, so wie die 48-jährige Cécile Marti.
Für Komponistinnen wie Marti wird es immer schwieriger, für grosses Orchester zu schreiben, da hinter einem abendfüllenden Werk gut vier Jahre Arbeit stecken. Bei den Schweizer Orchester fehle oft der Mut, zeitgenössische Musik zu spielen, sagt Thomas Meyer: «Es gibt bereits ein beeindruckendes Repertoire an Schweizer Orchesterwerken. Aber viele Orchester haben immer noch Angst, dass ihnen die Abonnementen davonlaufen wenn sie sich wirklich der Neuen Musik verpflichten».
Ruf nach mehr Diversität
In den letzten drei Jahren wurde auch in der Neuen Musik die Forderung nach mehr Diversität laut. Tatsächlich sind die Festivalprogramme in Europa noch immer dominiert von älteren weissen Männern, ebenso die Institutionen.
Warum hat ausgerechnet die Neue Musik, die für sich beansprucht avantgardistisch und offen zu sein, bei diesem Thema so viel Nachholbedarf? «Das hat mit den Ursprüngen in den 50er-Jahren zu tun», sagt Anja Wernicke. Damals hätten männliche Komponisten einen hierarchischen Duktus vorgegeben, der sich bis heute fortgesetzt habe. Diese Haltungen werden aktuell hinterfragt und aufgebrochen.
Auch die Neue-Musik-Landschaft in der Schweiz steckt mitten in einem strukturellen Wandel. Ein Beispiel dafür ist die Neuausrichtung der Tage für Neue Musik Zürich: Geleitet wird das Festival von einem Kollektiv von drei Frauen, es ist verbunden mit anderen Festivals in der Welt und achtet in der Programmierung auf ausgeglichene Geschlechterverhältnisse.
All das sind wichtige Impulse, damit die zeitgenössische Musik aus ihrem Elfenbeinturm herauskommt, die gesellschaftliche Vielfalt besser abbilden und ein neues Publikum gewinnen kann.