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Organist Cameron Carpenter Die Goldberg-Variationen in der Jogginghose

Cool trotz Corona: Der Starorganist Cameron Carpenter streamte die Aufnahme seines neusten Albums live auf Instagram.

«Die Akkorde kommen hier etwas zu brüsk», sagt eine Stimme aus dem Off. Sie gehört dem Tonmeister, der die Aufnahme vom Regieraum aus leitet. Cameron Carpenter sitzt derweil an seiner digitalen International Touring Organ, bequem gekleidet in Jogginghose und T-Shirt.

Als Zuschauer ist man nah dran, digital zumindest. Die Kamera ist direkt neben Carpenter aufgestellt. So hat man über den Live-Stream auf Instagram einen guten Blick auf die fünf Manuale, die Pedalklaviatur und Hunderte Registerknöpfe dieser Superorgel.

Carpenter probiert nach dem Hinweis des Tonmeisters ein paar Registrierungen aus. Dann spielt er die Stelle aus H. Hansons 2. Sinfonie nochmal mit leicht veränderten Klangfarben. Nach dem letzten Ton ist er zufrieden, und auch aus der Tonregie kommt die Bestätigung: «Sehr gut!»

Geballte Innovationskraft

Cameron Carpenter ist schon seit Jahren nicht nur für sein virtuoses Orgelspiel berühmt, sondern auch für seine Innovationskraft. Er selbst hat seine futuristische, mobile Touring-Orgel entwickelt und für mehr als eine Million Dollar bauen lassen.

So kann er mit seinem eigenen, massgeschneiderten Instrument auf Tournee gehen, und ist unabhängig von den teils sehr unterschiedlichen Orgeln, die in Kirchen und Konzertsälen fest installiert sind.

Das gab’s noch nie

Letzte Woche ging Carpenter nun auch in Sachen Streaming einen Schritt weiter als seine Kolleginnen und Kollegen: Er streamte sein Osterkonzert in Echtzeit aus dem leeren Konzerthaus Berlin auf die Bildschirme seiner Fans und Tage später auch den Aufnahmeprozess seines neusten Albums.

Dieser lange, aber flüchtige Stream in Carpenters Insta-Story zeigte, worauf es ankommt bei einer professionellen Aufnahme. Ein seltener Live-Einblick in die Entstehung einer Klassikaufnahme. Das gab’s noch nie.

Eins mit der Musik

Am zweiten Aufnahmetag beginnt die Arbeit an J. S. Bachs berühmten Goldberg-Variationen, adaptiert für Orgel. Einen Schluck Kaffee aus der Tasse und los geht’s: 10. Variation, «Fughetta».

Das Fugenthema spielt er mit den Füssen – ein anspruchsvolles und anstrengendes Unterfangen. Carpenters Füsse turnen auf den Pedalen herum, während die Hände auf unterschiedlichen Manualen die weiteren Themeneinsätze präsentieren.

Dazwischen drückt er immer wieder blitzschnell einzelne Registerknöpfe um Klangfarben zu ändern. Multitasking par excellence: Seine Extremitäten im Volleinsatz, während sein Gehirn und sein musikalisches Herz diese diversen Gefühle, Aktivitäten und Ebenen mühelos kontrollieren. Carpenter scheint eins zu sein mit seinem Instrument und der Musik.

Trillern bis zu Erschöpfung

Aber auch Carpenter muss oder will manchmal einen zweiten, dritten oder vierten Take versuchen. Auch ihm gelingt nicht jede Variation auf Anhieb nach seinen interpretatorischen Vorstellungen.

«Ich habe zwei falsche Töne gespielt», sagt er etwa, will einen Pedaltriller pointierter setzen oder einen Übergang intensiver gestalten. Der Tonmeister ermuntert ihn: «Wir haben Zeit, spiel’s einfach nochmal.»

Nach mehreren Versuchen sagt Carpenter: «Meine Beine werden langsam müde.» – «Wenn du willst, kommen wir später nochmal darauf zurück», schallt es aus der Regie.

Hier zeigt sich, dass ein einfühlsamer und motivierender Tonmeister in einer Aufnahmesituation Gold wert ist.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 17.4.2020, 07:20 Uhr

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