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Paavo Järvi in Zürich Kühl, kühn und ein wenig Rockstar

Wohin führt der neue Chefdirigent Paavo Järvi das Tonhalle-Orchester Zürich? In den Norden – und Richtung musikalisches Neuland.

Tonhalle-Maag-Begeisterung hin oder her: Das Dirigentenzimmer ist ein enger Raum, ärmlich fast. Immerhin hat man dem Dirigenten ein Barcelona-Daybed hingestellt, den Designklassiker von Mies van der Rohe.

Paavo Järvi hat zehn Minuten Zeit für ein Interview. Er sitzt völlig entspannt da. Seine Stimme ist tief, in sich ruhend. Angenehm.

Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester

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Legende: Keystone / Gaetan Bally

Ein grünes Bändchen um das rechte Handgelenk deutet es an: Der neue Tonhalle-Chef hat auch eine verspielte Seite. An der vorangegangenen Pressekonferenz, Beginn 9.30 Uhr, sagte er als erstes, hier in der Schweiz setze man solche Medientermine schon sehr früh an.

Dreimal Järvi

Paavo Järvi ist einer von drei Dirigenten dieses Namens. Vater Neeme, 81, dirigiert noch immer. International.

Bruder Kristjan mit Jahrgang 1972 ist so etwas wie das bunte Schaf der Familie. Seine Programme umfassen neben dem klassischen Repertoire auch improvisierte Musik und Arrangements. Er arbeitet mit Jazzmusikern zusammen oder mit dem vom Rock herkommenden Komponisten Erkki-Sven Tüür.

Dass ausgerechnet dieser Erkki-Sven Tüür in der ersten Saison Paavo Järvis «Composer in Residence» in Zürich wird, lässt auf ein entspanntes Verhältnis der beiden dirigierenden Brüder schliessen.

Vom Rocker zum Klassikfan

Auch der 56-jährige Paavo Järvi hat Wurzeln im Rock. Als Jugendlicher trommelte er in einer Band. «Wir spielten einfach die Musik, die wir spielen wollten», sagt er rückblickend. Das war offensichtlich keine klassische Musik.

Später merkte Paavo Järvi jedoch, dass es die klassische Musik ist, die ihn fasziniert: «Klassische Musik hat einfach alles, was ich brauche.»

Norden im Gepäck

Doch die Pfade, die er in Zürich mit dem Tonhalle-Orchester gehen wird, sind alles andere als ausgetrampelt. Klar wird Järvi auch Beethoven dirigieren. Aber er kommt, wie sein Vorgänger Lionel Bringuier , auch mit Musik und Musikern seiner Heimat nach Zürich.

Heimat im weiteren Sinne: Aus Järvis Herkunftsland Estland stammt etwa Erkki-Sven Tüür. Aus Lettland die Akkordeonistin Ksenija Sidorova. Aus Finnland der Geiger Pekka Kuusisto.

Die Saison eröffnet Järvi ebenfalls finnisch mit der monumentalen Kantate «Kullervo» von Jean Sibelius – einer Vertonung des finnischen Nationalepos Kalevala.

Das grosse Projekt: Tschaikowski

Auch Russisch wird es in Zürich werden: Järvi und das Tonhalle-Orchester steuern einen Zyklus aller sechs Sinfonien Tschaikowskis an – im Konzert und auf CD.

Das Vorhaben erinnert vage an die revolutionäre Einspielung aller Beethoven-Sinfonien durch das Tonhalle-Orchester unter Järvis Vorvorgänger David Zinman. Gibt es zu Tschaikowski denn auch wesentlich Neues zu sagen?

Nein, entgegnet Järvi. Es werde kein historisch informierter Tschaikowski, etwa mit Instrumenten aus der Zeit. Es gehe ihm darum, Tschaikowski aus der interpretatorischen Umklammerung der Dirigierikone Jewgeni Mrawinski zu befreien.

Wie genau will er das tun? «Das werden wir sehen. Das Orchester und ich», entgegnet Järvi. Er wolle «open minded» bleiben.

Vielversprechende Klangbilder

Tief lässt er sich also nicht in die Karten blicken. Wer Paavo Järvi jedoch im Konzert erlebt hat oder sich eine seiner zahlreichen Aufnahmen anhört – emotional packend und präzis, in der musikalischen Architektonik glasklar – der dürfte sich freuen: Auf diese Reise in den musikalischen Norden und auf die nächsten fünf Jahre Järvis in Zürich.

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