Wegen seiner Innovationen in den 1960er-Jahren wird der Komponist in den USA auf einem Level mit John Cage wahrgenommen. In Europa allerdings war Alvin Lucier lange unterschätzt. Obwohl der Musiker, Forscher und Performancekünstler auf einzigartige Weise das Wesen und die Wirkung von Akustik und Klang erforscht hat.
Am Mittwochabend wurde bekannt, dass Alvin Lucier nach einem Sturz mit 90 Jahren verstorben ist. Das vermeldete seine Tochter Amanda Lucier.
Meister der experimentellen Musik
1969 schrieb er Musikgeschichte: Alvin Lucier sitzt auf einem Stuhl, nimmt das Mikro in die Hand und spricht: «I am sitting in a room different from the one you are in now. I am recording the sound of my speaking voice …»
Er spielt den Text über Lautsprecher im Raum ab und nimmt den Klang wieder auf. Das wiederholt er. So lange, bis sich durch die vielen Überlagerungen die Stimme auflöst. Am Ende ist nur noch die Eigenresonanz des Raumes zu hören.
«Ich denke abstrakt. Ich schere mich nicht um Technik.»
« I am sitting in a room » ist ein Meisterwerk der experimentellen Musik und beispielhaft für Alvin Lucier: auf das Wesentliche reduziert und voller Poesie. Alvin Luciers mache in seinen Stücken unhörbare Klänge hörbar, sagte der kalifornische Cellist Charles Curtis 2016 über seinen Freund: «Es ist so einzigartig, wie er einen Klang, von dem man vorher nicht wusste oder den man vorher nicht wahrnehmen konnte, entschleiert.»
Er dachte abstrakt
Melodie und Harmonie hatten bei Alvin Lucier nichts verloren, und das obwohl er, geboren 1931 in New Hampshire, klassische Komposition studiert hat und in einer Musikerfamilie aufgewachsen ist:
«Ich hatte mich dagegen gewehrt Klavier zu studieren. Ich hatte Angst bei dieser musikalischen Familie. Ich glaube das hat mir gut getan. Ich falle nicht in Klischees. Meine Musik ist so anders. Ich denke abstrakt. Ich schere mich nicht um Technik.»
Ein Mann der Praxis
Alvin Lucier gilt auch als Pionier der elektronischen Musik, zudem schrieb er für Film und Theater und bekam viele Kompositionsaufträge für traditionelle Instrumente, die er alle annahm. Ein Grund: Er konnte so schlecht Nein sagen.
Fragen Sie mich nicht was es bedeutet, fragen Sie mich, wie ich es gemacht habe.
Das hat er vor fünf Jahren in einem Interview erzählt, als er für ein Festival anlässlich seines 85. Geburtstages an der Hochschule der Künste in Zürich zu Gast war. Auch eine Konferenz fand statt mit klugen Vorträgen über ihn und seine Musik. Wie fühlt sich das an Forschungsobjekt zu sein?
«Es ist schon ein wenig unangenehm», antwortete er damals und fing an zu grinsen. «Ich musste das Wort Epistemologie nochmal nachschlagen. Ich bin nicht dumm, ich bin einfach mit dem Kopf woanders.»
Alvin Lucier stand da mitten im Trubel, das Baseballcap tief ins Gesicht gezogen. Er hat sich gelangweilt, wenn er zu den Interpretationen seiner Werke gefragt wurde: «Fragen Sie mich nicht, was es bedeutet, fragen Sie mich, wie ich es gemacht habe. Ich denke nicht philosophisch, ich denke darüber nicht nach, ich bin ein Mann der Praxis.»
Ein Stück wie eine Therapie
Mit seinem Sound hat Alvin Lucier Generationen von Klangkünstlerinnen und Musikern auf der ganzen Welt geprägt. Seine Stücke wurden interpretiert von prominenten Figuren wie John Cage, Joan La Barbara, Yoko Ono, Pauline Oliveros bis zu kontemporären Grössen wie Oren Ambarchi, Yo La Tengo oder Stephan O'Malley von Sunn O))).
Im vergangenen Mai feierte Alvin Lucier seinen 90igsten Geburtstag mit einer über 24-stündigen Performance. Rund um den Globus sassen Klangkunstschaffende in ihren Studios und Wohnzimmern und performten «I am Sitting in a Room».
Der junge US-Komponisten Adam O'Dell hat das Stück während der Pandemie immer wieder bei sich zu Hause aufgeführt. In einem YouTube-Video erklärte er, dass es für ihn wie eine Therapie war, weil es unsere Beziehung zur Technologie und zu unseren eigenen vier Wänden verhandle.
Es besteht wenig Zweifel, dass Alvin Luciers Kunsts aktuell bleibt, auch über seinen Tod hinaus.