Im Sommer 1982 landete die Kölner Mundart-Band BAP mit « Kristallnaach » einen ungewöhnlichen Hit. Das Lied war musikalisch komplex und auch textlich alles andere als ein leichter Sommersong: Der Sänger Wolfgang Niedecken beschreibt darin eine gespenstige deutsche Gegenwart, die an die politische Stimmung während der Novemberpogrome 1938 erinnert:
Da, wo Darwin für alles herhält
ob man Menschen vertreibt oder quält
da, wo hinter Macht Geld ist
wo stark sein die Welt ist
von Kuschen und Strammstehen entstellt.
Der Hit neu aufgelegt
Heute hält Niedecken seine gesungene Warnung wieder für angebracht: faschistische Ideologie, Rassismus und Homophobie könnten in Deutschland ein weiteres Mal salonfähig werden.
Deswegen hat er das Lied neu eingespielt – aber nicht auf Kölner Mundart, sondern auf Hochdeutsch, damit ein breiteres Publikum dem Text folgen kann.
«Es kommen härtere Tage»
«Kristallnacht» auf Hochdeutsch ist das Pilotvideo auf der Webseite « Demotapes », die in düsteren Tönen ankündigt, warum es sie braucht: «Es kommen härtere Tage. Zu vieles ist aus den Fugen geraten, in der Welt wie auch vor der eigenen Haustür.»
Die BAP-Geigerin Anne de Wolff hat die Initiative gegründet, Wolfgang Niedecken – eine Ikone politischer Musik in Deutschland – ist ihr Zugpferd.
Arsch hoch und Zähne auseinander
Niedeckens Engagement für das Projekt ist biografisch geprägt. Wie so viele, die nach dem Krieg geboren wurden, warf er seinem Vater vor, damals nichts gegen Hitler unternommen zu haben:
«Diese Frage, warum man nichts getan hat, will man sich nicht unbedingt selber stellen lassen. Deshalb muss man irgendwie den Arsch hochkriegen und die Zähne auseinander», sagt er gegenüber dem WDR.
Niedeckens wichtigstes Anliegen: Die deutschen Bürgerinnen und Bürger müssen die Demokratie leben und im September wählen gehen – und zwar nicht die Populisten, sondern die demokratischen Parteien.
Stellung beziehen. Aber wofür?
Mit «Demotapes» bittet Niedecken Musikerinnen und Musiker aus Deutschland, politisch Stellung zu beziehen und Lieder von «sozialer und politischer Relevanz» für die Webseite aufzunehmen und einzuschicken. Die Seite ist seit einem Monat online, 35 Videos wurden bereits ausgewählt.
Die Zahlen der prominent beworbenen Seite sind mager: Durchschnittlich kommen die Videos auf kaum mehr als 200 Klicks. Ob sich so die Demokratie retten lässt? Das fragt man sich auch bei den kurzen Videobotschaften der teilnehmenden Musikerinnen und Musiker: Sie wirken teilweise ziemlich hilflos.
Viele begnügen sich mit ein paar politischen Floskeln und dem Aufruf die Stimme zu erheben. Aber wogegen? Gegen die bösen Populisten, den Hass oder «die da oben» ganz allgemein. Und wofür? Für die Demokratie, den Frieden und die Liebe. Das war’s dann aber auch schon an Aussage.
Selbstironie statt Zeigefinger
In den Liedern finden sich zum Glück mehr Zwischentöne als in den Videobotschaften. Heraus stechen jene, die nicht bierernst den Zeigefinger erheben, sondern mit Witz und Selbstironie ans Werk gehen.
Zum Beispiel der Liedermacher Bünger: In «Finde den Fehler, Ann-Kathrin» macht er sich über die Widersprüchlichkeit politisch korrekter Menschen lustig:
Du sagst die obdachlosen Menschen, die brauchen doch ein Heim
aber hier in deinem Zimmer da seh’ ich gerade kein'.
Man müsste mal versuchen die Armut einzudäm'
Ich seh' schon, du kaufst Fair Trade und zwar bei H&M.
Politische Musik muss aber nicht immer in Liedermacher-Manier daherkommen. Das zeigt die Soulsängerin Tabea Luisa mit ihrem kraftvollen Song « Lines ». Ihre Message zur Weltverbesserung: Tritt über die eigenen Grenzen hinaus!
Die Berliner Band Silly beackert in ihrem Lied « Vaterland » ein schwergewichtiges Thema: den deutschen Waffenhandel. Doch weil sich Deutschrock blöderweise reimen muss, kommen Zeilen wie diese dabei heraus:
«Wir bringen für Geld
den Tod über die Welt.
Wie lieb’ ich so’n Land
Mit Herz oder Verstand?
«Kristallnacht» triumphiert
Die Lieder auf «Demotapes» überzeugen musikalisch und kommen in einer grossen stilistischen Vielfalt daher. Aber textlich gilt fast überall: grosse Worte und wenig Substanz. An BAPs «Kristallnacht» kommt keiner auf der Plattform heran.
Die traurige Bilanz also: Bei «Demotapes» triumphiert kein Lied von heute, sondern eins von 1982. Und damit beweist der alte Schinken nicht nur seine Zeitlosigkeit. Er hält der deutschen Musiklandschaft auch vor Augen, dass gute politische Musik nicht zack fertig aus ein paar leeren Parolen und etwas Pathos geschustert ist, sondern dass sie aus gedanklicher Tiefe, Poesie und Dringlichkeit erwächst.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 3.8.2017, 17:15 Uhr