Sie schwebt als muskulöse Fee um die Poledance-Stange und trainiert – mit scharfem Schwert und eiserner Disziplin – chinesischen Kampfsport. Sie posiert als burlesk-barocke Piratin, dann als Engelsgeschöpf mit Zöpfen. Wer sie ist und was sie kann, das bestimmt Tahliah Barnett alias FKA Twigs selbst.
Der 31-Jährigen kann man auf Instagram dabei zuschauen, wie ernst es ihr ist, nicht nur als Musikerin wahrgenommen zu werden, sondern als Gesamtkunstwerk. Ihr Feed: das Trainigstagebuch einer virtuosen Performancekünstlerin, die sich zu Höchstleistungen treibt und bis zur Unkenntlichkeit schmückt.
Barnett wächst im Südwesten Englands auf. Ihren Spitznamen twigs (auf Englisch: Zweige) bekommt sie, weil ihre Gelenke knacksen wie Äste. In der Grundschule ist sie eine Einzelgängerin. Als 17-Jährige zieht sie nach London und findet Verbündete, mit denen sie ihre tänzerischen Ambitionen teilen kann.
Emotionaler und physischer Kampf
Vor fünf Jahren beeindruckte Barnett die Musikkritik mit ihrem Debütalbum «LP1», das irgendwo zwischen futuristischen Soul und elektronischem Balladen-Pop eingeordnet wurde. Nun meldet sich Barnett mit ihrem zweiten Album zurück.
In «Magdalene» hallt ihr emotionaler und physischer Kampf nach, den sie in den vergangenen Jahren ausfechten musste. Da war einerseits das Aus ihrer durch die Boulevardpresse geschleiften Beziehung, andererseits musste sie sich sechs Tumore aus der Gebärmutter entfernen lassen.
«Eine Obstschale voller Schmerz» nannte sie die Apfel- und Kiwi-grossen Geschwülste.
So erzählt ihr neues Album von diesem Schmerz. Wie ausgeliefert wir ihm sind, wie brüchig und belastbar er einen fühlen lässt. Die Themen: das Verlassenwerden, der Liebeskummer, aber auch die Widerstandfähigkeit.
Popsong als sakrale Hymne
Barnett beginnt «Magdalene» mit kirchlichen Klängen und schleudert den Song «Thousand Eyes» mit ihrer Falsettstimme und verzerrten, drastischen Schlägen ins digitale Heute.
In der Trennungsballade «Cellophane» besingt sie das Gefühl purer Verzweiflung, nachdem die Liebe endete. Ein wirklich tragischer Song, würde Barnett sich nicht im Musikvideo mit Stripper-Heels und akrobatischem Können die Poledance-Stange emporkämpfen und aus ihrem Elend einen selbstermächtigenden Stunt machen.
Was wie computeranimiert aussieht, entlarvt Barnett in Liveauftritten als absolute Körperbeherrschung. Denn was Barnett musikalisch erzählt, wird stets auch körperlich ausgedrückt.
Obere Liga, eigene Regeln
In «Magdalene» arbeitet sie mit sakralen, klassischen und elektronischen Elementen, die nicht zu finden sind in Songs, die derzeit millionenfach gestreamt werden. Dem Mainstream kehrt Barnett musikalisch ohnehin den Rücken zu. Mit ihren aufwendigen, avantgardistischen Inszenierungen hievt sie sich aber dennoch in den Adel der Popwelt.
Alles nach eigenen Regeln: Ihre Songs stammen aus keiner Hitfabrik, sie schreibt sie selbst. Barnett ist Choreografin, Art-Direktorin, Sängerin und Co-Produzentin zugleich. Eine Selbstoptimiererin im Alleingang.
Dabei überträgt Barnett auf ihre Pop-Persona FKA twigs, was im echten Leben nicht immer gelingen will: Selbstbeherrschung. Und spendet mit ihrer Musik all jenen Trost, die sich im Liebeskummer verloren haben.