Mit patriotischen Liedern singt der «Freie Chor von Minsk» seit letztem August gegen das repressive Regime von Alexander Lukaschenko an. In der U-Bahn, in Einkaufzentren, in den Wohnblocks oder – als es sie noch gab – an den Sonntagsmärschen.
Roman Schell hat den Chor mehrere Monate begleitet und im Dezember
einen Film
daraus gemacht. Im März will der junge Filmemacher erneut nach Belarus reisen. Denn für den 25. März verkündet die belarussische Opposition neue Strassenproteste gegen Lukaschenko.
SRF: Wie geht es den Mitgliedern des Chors?
Roman Schell: Alle haben Angst. Der Dirigentin Galina geht es nicht gut. Sie schläft kaum noch, sitzt auf gepackten Koffern, falls sie vom Geheimdienst abgeholt würde. Sie erzählte mir, dass der Staat versuche, ihr die Kinder wegzunehmen. Das kennt man aus Sowjetzeiten.
Der Chor trifft sich noch, um zu proben, aber jedes Mal an einem anderen Ort.
Wann waren Sie zum letzten Mal in Belarus?
Ich war zum letzten Mal ein paar Tage vor Weihnachten dort. Ich will weiterdrehen, und wir haben auch gedreht. Aber einfacher wird es nicht.
Als wir ein paar Stunden vor unserem geplanten Treffen eine Nachricht erhielten, zwei Mitglieder des Chors wären festgenommen worden, bin ich noch am selben Abend ausgereist.
Letzte Woche wurden zwei Journalistinnen zu je zwei Jahren Haft verurteilt. Das klingt gefährlich.
Es ist auch gefährlich. In dem Wohnblock, aus dem diese beiden Journalistinnen filmten, ist der Freie Chor auch aufgetreten. Alle Belarussen, die ich traf, leben in permanenter Angst, sie könnten verhaftet werden. Für Journalisten gilt das besonders. Dutzende meiner Kolleginnen und Kollegen sind abgeführt worden.
Und Sie?
Ich bin russisch-deutscher Doppelbürger. Und als Russe kann ich problemlos zwischen Belarus und Russland hin- und herreisen.
Hat der Gesang in Belarus einen ähnlich hohen Stellenwert wie in den baltischen Staaten, wo vor 30 Jahren von einer «Singenden Revolution» gesprochen wurde?
Viele Belarussen wünschten sich, dass ihr Protestgesang als singende Volksbewegung wahrgenommen wird. Doch die Gesangstradition hat längst nicht denselben Stellenwert wie zum Beispiel jene in Estland oder Lettland.
Zu Sowjetzeiten gingen viele Volkslieder verloren, vor allem die Belarussischen. Zu Beginn der Proteste spielte der Freie Chor auch keine Rolle. Der Erfolg, wenn man von einem Erfolg sprechen will, hat sich erst mit den vielen spontanen Auftritten eingestellt.
Sobald man ein Stativ hinstellt oder eine professionelle Kamera in die Hand nimmt, läuft man Gefahr, verhaftet zu werden.
Wie sind Sie eigentlich auf den Chor aufmerksam geworden?
Nach dem Beginn der Proteste im August 2020 sah ich ihre Videos im Internet. Damals konnten die Sängerinnen und Musiker noch legal auftreten. Der Freie Chor sang jeden Tag zur selben Zeit vor den Türen der staatlichen Philharmonie in Minsk seine Volkslieder.
Bis jetzt wurde ich nie verhaftet, aber es kann morgen schon geschehen.
Also bin ich hingefahren und mit ihnen ins Gespräch gekommen. Irgendwann fing ich dann an zu drehen, mit dem Handy. Sobald man ein Stativ hinstellt oder eine professionelle Kamera in die Hand nimmt, läuft man Gefahr, verhaftet zu werden.
Und wie arbeiten Sie?
Es geht nur, wenn man vor Ort ist und sich vernetzt. Man bekommt von irgendwem eine Nachricht, dass sich der Chor eine Stunde später irgendwo trifft. Dann fährt man hin und filmt.
Dabei muss man aufpassen, dass man weder von der zivilen Polizei noch von der sichtbaren verhaftet wird. Jeder kann bis zu 15 Tage festgesetzt werden.
Ihnen ist das noch nie passiert?
Bis jetzt nicht, aber es kann morgen schon geschehen.
Das Gespräch führte Christian Walther.