Zum Inhalt springen

Schweizer Musikpreise 2025 Sylvie Courvoisier gewinnt den Grand Prix Musik

Sie ist eine risikofreudige Improvisatorin, die seit Jahrzehnten in New York lebt und in ihrer Musik auf die Welt reagiert: mit Sylvie Courvoisier wird eine politisch engagierte Exilschweizerin ausgezeichnet.

Sylvie Courvoisier hat Courage. Die Pianistin trägt an einem Konzert in Washington ein T-Shirt mit dem Aufdruck «Immigrants are not criminals. The president is». Und das ausgerechnet im Kennedy Center, das der US-Präsident als Vorsitzender kontrolliert. «Nach meinem Konzert sagten die Leute, ich sei sehr mutig, so was zu tragen. Die könnten doch an meine Türe kommen. Und ich dachte: Das ist doch verrückt.»

Ihr Entsetzen kommt direkt auf die Bühne

Für die politische Lage ihrer Wahlheimat findet die 56-jährige saftige Worte. Sie sorge sich, dass die USA in den Faschismus abgleiten, sagt Sylvie Courvoisier Ende Mai am Schaffhauser Jazzfestival. Es ist typisch für diese Künstlerin, dass sie ihr Entsetzen zu Musik macht. Auf der Bühne liest sie Worte vor, die Präsident Trump aus Regierungsdokumenten streichen lässt: Frauen, Rassismus, Klimakrise. Ihnen setzt Courvoisier ihre, wie sie sagt, Lieblingswörter entgegen: Toleranz, Gerechtigkeit, Integrität. Sie liest sie laut, erhält dafür Applaus und fängt mittendrin an zu spielen.

Sechs Personen lächeln vor einer Betonwand.
Legende: Im Solo, im Duo oder als Ensemble: Ihr Album Chimaera nahm Sylvie Courvoisier 2022 mit tatkräftiger Unterstützung auf. Veronique Hoegger

Die Energie ihrer Kritik geht nahtlos über in die Musik. Mit den Unterarmen traktiert sie den Konzertflügel, wechselt impulsiv vom harten Hämmern zum weichen Anschlag. Dank ihrer tief verinnerlichten Spieltechnik kann Sylvie Courvoisier ihre Gefühle mühelos in Musik übersetzen. Was sie spielt, gehört gesagt. Nichts wirkt überflüssig.

Raus, um zu wachsen

Sylvie Courvoisier ist die Gemeinschaft sehr wichtig. Zu Beginn ihrer Karriere in der Westschweiz habe ihr diese gefehlt. «Heute erlebe ich das anders. In den späten 90ern gab es aber in der Romandie kaum experimentelle oder avantgardistische Szenen.» In Lausanne studiert sie klassisches Piano, dann Jazz in Montreux. Und erlebt als junge Frau viel Neid.

Zwei Frauen in schwarzer Kleidung vor weissem Hintergrund.
Legende: Raffinierte Kompositionen: Sylvie Courvoisier zeigt sich im Duo mit der amerikanische Gitarristin Mary Halvorson (rechts) virtuos und spielfreudig. Veronique Hoegger

«Ich habe viel Aufmerksamkeit bekommen und manche sagten, das liege nur daran, dass ich einen schönen Hintern hätte.» Auch deshalb verlässt sie die Schweiz. «Ich musste raus, um zu wachsen.» Ihrer Liebe folgt Courvoisier 1998 nach New York. Und fängt dort nochmal neu an. «Niemand kannte mich, was ein Vorteil war.»

Karriere in New York

Mit ihrem Mann, dem Jazz- und Avantgarde-Geiger Mark Feldman, arbeitet sie eng zusammen, ebenso wie mit dem Saxofonisten und Komponisten John Zorn. Und auch nach der Scheidung fühlt sie sich wohl in ihrem New Yorker Umfeld, ihrer «musikalischen Familie». Im Lauf ihrer Karriere entwickelt Sylvie Courvoisier mit anderen Musikern und solo ihre ganz eigene Musik zwischen Jazz, Blues und Neuer Musik. Eine oft frei improvisierte Musik, dank ihrer Bildhaftigkeit auch für ungeübte Ohren zugänglich.

Alle Musikpreis-Ausgezeichneten 2025

Box aufklappen Box zuklappen

Sylvie Courvoisier: Das BAK ehrt die Pianistin als «Musikerin mit grenzenloser Verbindungskraft» und verleiht ihr den Hauptpreis Grand Prix Musik.

Julie Campiche: Radikale Ehrlichkeit in der Musik ist für Julie Campiche der Weg, sich mit anderen Menschen zu vernetzen: Erst wenn es gelingt, eine möglichst intime Musik zu spielen, so menschlich wie möglich zu sein, wird der echte Kontakt mit der Aussenwelt möglich. Mit diesem Konzept ist die Genferin Julie Campiche zu einer einflussreichen Harfenistin geworden, zuerst über den Röstigraben hinaus, mittlerweile auch in ganz Europa. (Jodok Hess)

Thomas Demenga: Der 70-jährige Berner Cellist Thomas Demenga zählt seit über fünf Jahrzehnten zu den herausragenden Persönlichkeiten der Schweizer Musikszene – als vielseitiger Solist und Kammermusiker, als Komponist, Festivalleiter und nicht zuletzt als leidenschaftlicher Pädagoge. In seinen 45 Jahren als Professor für Violoncello an der Hochschule für Musik Basel sowie in zahlreichen internationalen Meisterkursen hat er mehrere Generationen junger Cellistinnen und Cellisten in der Entwicklung ihrer musikalischen Persönlichkeit gefördert und sie nachhaltig geprägt. (Eva Oertle)

Titus Engel: Der Dirigent begreift Musik als Sprache, respektive als verschiedene Sprachen. Und weil er diese Sprachen auch perfekt beherrscht – sei es jene der Alten Musik und ihrer historischen Aufführungspraxis, oder jene der zeitgenössischen Musik – ist er der ideale Reiseführer durch die abenteuerlichsten Klang-Landschaften. (Valerio Benz)

Jannik Giger: Nicht nur als Komponist – Jannik Giger ist auch als Videokünstler tätig und macht Klang- und Rauminstallationen. Komponieren ist bei dem 39-jährigen Basler also ein weit gefasster Begriff. Es heisst für ihn: Musikerinnen und Musiker inszenieren. Referenzen setzen und sampeln. Und es heisst: Versuchsanordnungen entwerfen. Jannik Giger hat sich über die Schweiz hinaus einen Namen gemacht. Er geniesst es, mit Konventionen und Ritualen zu spielen – und mit dem Publikum. (Theresa Beyer)

Charlotte Hug Raschèr: Dass ein Streichinstrument so klingen kann, eine menschliche Stimme diese Kraft hat! Über vier Oktaven nimmt uns die Künstlerin mit in wahnwitzige Abgründe, gurrend, ächzend, kichernd und zwitschernd. Wie eine Schamanin bewegt sie sich zwischen ihren «Sonicons», Viola und Stimme sind ihre Werkzeuge. Mit ihnen schafft sie den Zugang zu «elswhere», hybrid oszillierend zwischen hier und dort, diesseits und jenseits. (Annelis Berger)

Stereo Luchs: Rhythmische Beats aus Hip-Hop, R&B und Dancehall tragen die Songs des Zürcher Soundpoeten Silvio Brunner alias Stereo Luchs. Seine tiefgründigen Mundarttexte zum urbanen Lebensgefühl basieren auf persönlicher Erfahrung wie auch scharfer Beobachtung und treffen den Nerv der Zeit. (Gabrielle Weber)

Vox Blenii und Vent Negru: Die Ensembles Vox Blenii und Vent Negru spüren seit Jahrzehnten vergessene Volkslieder auf, dokumentieren und singen sie. So holen die beiden Tessiner Musikgruppen das reiche Erbe ihrer beiden Taler, dem Bleniotal bzw. Onsernonetal, in die Gegenwart und machen es einem breiten Publikum zugänglich. (Elisabeth Baureitel)

Spezialpreise Musik 2025

Facciamo la Corte!: Jeden Spätsommer lädt Facciamo la Corte! für ein Wochenende Underground-Musizierende aus der ganzen Schweiz ins Tessiner Dorf Muzzano ein, um dort auf Plätzen und in Gärten aufzutreten – und will dabei eher Dorffest sein als Festival. Das Event ist einzigartig, weil es liebevoll kuratiert ist und unbeschwert die verschiedenen Sprachregionen, Generationen sowie Stadt und Land zusammenbringt. (Theresa Beyer)

Insub Meta Orchestra (GE): Dass Solokunstschaffende und Ensembles frei improvisieren, ok. Aber eine Grossformation? Das Genfer Insub Meta Orchestra lebt diese experimentelle Musikzierhaltung seit 15 Jahren. Weil die 60 Musikschaffenden verschiedene musikalische Hintergründe und Levels haben, sich als Kollektiv verstehen und sie ihre Stücke selbst kreieren, wirft das Insub Meta Orchestra Orchesterkonventionen über den Haufen und lässt unerwartete Klangräume entstehen. (Theresa Beyer)

Norient: Das Netzwerk Norient ist seit über 20 Jahren ein wichtiges Sprachrohr für Musikkultur und Underground-Strömungen aus der ganzen Welt und setzte sich mit seinen multimedialen Projekten für eine faire, diverse Musiklandschaft jenseits von Eurozentrismus, Exotismus und Diskriminierung ein. (Elisabeth Baureitel)

Inspiration dafür bietet ihr oft die Literatur. «Beim Lesen tauche ich ein in andere Welten, in fremde Emotionen.» Dank der Literatur könne sie Mitgefühl für andere üben, «so werde ich ein besserer Mensch.»

Rückkehr in die Schweiz?

Dass sie nun den Granz Prix Musik erhält, ist für Sylvie Courvoisier eine grosse Überraschung. «Diese Auszeichnung berührt mich sehr. Die Schweiz denkt noch an mich, ich habe hier einen Platz.»

Angesichts der politischen Lage denke sie manchmal darüber nach, zurückzukehren. Solange es geht, wolle sie aber in New York bleiben und helfen, sagt Courvoisier, die zwei minderjährige Immigranten im Alltag unterstützt. An ihren Konzerten werde sie weiterhin kein Blatt vor den Mund nehmen, auch in den USA nicht.

SRF 4, Nachrichten, 05.06.2025, 11 Uhr

Meistgelesene Artikel