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Musik SWR Sinfonieorchester spielt den eigenen Totentanz

Mit einem Open-Air Konzert auf dem Freiburger Münsterplatz und einem gut vierstündigen Konzertmarathon im Freiburger Konzerthaus inklusive Public Viewing verabschiedete sich das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg endgültig von der Musikwelt. Ein grosses Adieu.

  • Nach 70 Jahren wird das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart fusioniert.
  • Das neue Orchester soll langfristig gerechnet 25% weniger kosten, eine Einsparung von fünf Millionen Euro.
  • Der Verlust eines in der neuen Musik so erfahrenen Orchesters ist für die Musikwelt riesig.

Am Wochenende des 16. und 17. Juli 2016 war es zum allerletzten Mal live zu hören unter der Leitung seines letzten Chefdirigenten François-Xavier Roth. In beiden Konzerten und insbesondere in der Dernière im Konzerthaus zeigte das Orchester noch einmal alles, was es kann.

Blick von der Orchesterbühne ins Publikum, dass eine Standingovation gibt und Herzchen auf Plakaten in die Höhe halten.
Legende: Das Publikum verabschiedete sich nach 70 Jahren mit einem herzhaften Applaus. SWR/Wolfram Lamparter

Über einen Abschied

Es liess seine Spezialitäten zur Geltung kommen, erinnerte an seine Arbeit in den 70 Jahren seines Bestehens, trug aber gleichzeitig auch der Tragik der anstehenden Orchesterfusion mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart Rechnung.

So begann es gefasst und energisch mit Gustav Mahlers «Totenfeier» und eröffnete damit quasi sein eigenes Begräbnis. György Ligetis berühmte «Atmosphères» und «über» von Marc André – beide einst vom SWR Sinfonieorchester uraufgeführt – repräsentierten die unzähligen anderen Stücke, die dieses Orchester aus der Taufe gehoben hat.

Das Stück «über» spielte das SWR Sinfonieorchester zusammen mit dem Klarinettisten Jörg Widmann und dem Experimentalstudio des SWR. Das Sinfonieorchester zeichnete «über» 2015 an den Donaueschinger Musiktagen mit dem von ihm selbst ins Leben gerufenen Orchesterpreis für das beste Stück aus.

Orchester spielt bei Nacht auf einer Openair-Bühne
Legende: Viele Dutzend Aufnahmen hat das Sinfonieorchester realisiert und wurde mehrfach mit renommierten Preisen ausgezeichnet. SWR/Wolfram Lamparter

Philosophische Frage und Totentanz

In vier «Notations» von Pierre Boulez demonstrierte das Orchester sein breites Spektrum an Klangfarben und wie es zwischen den subtilsten Nuancen hin und her changieren kann. «Die Unvollendete» von Franz Schubert erklang in historisch informierter Praxis.

Mit «The unanswered Question» von Charles Ives und «Le sacre du printemps» von Igor Strawinsky setzten die Musizierenden ein so philosophisches wie starkes letztes Zeichen: die unbeantwortete Frage als Hinterfragung der Fusion, sowie des Orchesters wilder Totentanz in Strawinskys Ballettmusik.

Klangliche Tiefenschärfe

In allen Werken faszinierte die Plastizität des Klangs des SWR Sinfonieorchesters: eine phänomenale Durchhörbarkeit und Tiefenschärfe im Klang, das Resultat von perfekt austarierten Klangschichten.

François-Xavier Roths Interpretationen vermittelten sowohl die Emotionen als auch die Struktur der Musik. Die Musizierenden demonstrierten, welche stupende Gewandtheit im Umgang selbst mit den komplexesten Partituren sie sich in jahrzehntelanger Auseinandersetzung mit neuer Musik erarbeitet haben.

Audio
Der letzte Ton eines einzigartigen Orchesters
aus Musik unserer Zeit vom 20.07.2016.
abspielen. Laufzeit 1 Minute.

Orchester mit modernem Profil

Das SWR Sinfonieorchester spielte seit seinem ersten Auftritt am 2. April 1946 die Musik seiner Zeit. Der Musikwissenschaftler Heinrich Strobel (damals Leiter der SWF Musikabteilung) war es, der dem Orchester ein modernes Profil verpasste.

So arbeitete es stets mit den bedeutendsten Komponisten und Komponistinnen zusammen, und lernte so spielenderweise deren Musiksprache von der Pike auf kennen. Gotthold Ephraim Lessing (nicht der Dichter!), Hans Rosbaud, Ernest Bour, Kazimierz Kord, Michael Gielen, Sylvain Cambreling und François-Xavier Roth waren die Chefdirigenten des Orchesters.

Es hat viele Dutzend Aufnahmen realisiert, unter anderem hat es alle Orchesterwerke von Olivier Messiaen und alle Beethoven- und Mahlersinfonien eingespielt. Dafür wurde es mehrfach mit renommierten Preisen ausgezeichnet.

Orchester im Saal.
Legende: In allen Werken faszinierte die Plastizität des Klangs des SWR Sinfonieorchesters. SWR/Wolfram Lamparter

Die Hiobsbotschaft 2012

Am 28. September 2012 verkündet der Rundfunkrat des SWR eine Hiobs-Botschaft: die Fusion des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart im Jahr 2016. Aus den beiden ganz unterschiedlich ausgerichteten SWR Orchestern soll ein neuer Klangkörper fusioniert werden.

Das neue Orchester soll langfristig gerechnet 25% weniger kosten, eine Einsparung von fünf Millionen Euro. Die Emotionen kochen hoch, es gibt Kundgebungen, eine politische Debatte im Baden-Württemberger Landtag.

Proteste und ein kleiner Trost

Unterschriften und Geld werden gesammelt, Protest-Buttons werden getragen. Doch alles nützt nichts, ab der Saison 2016/2017 hat der SWR nur noch ein klassisches Orchester, das «SWR Symphonieorchester».

Immerhin: Der SWR hat sich verpflichtet, niemanden aufgrund der Fusion zu entlassen, weder in den Orchestern noch in der Verwaltung. Für einen Übergangszeitraum verspricht er ausserdem Zuschüsse zu neu anfallenden Fahrt- oder Mietkosten.

Ohne Leitung in die Zukunft

Die Musizierenden sollen im neuen Klangkörper vorerst ohne Leitung durch einen Chefdirigenten in ihrem Spiel zusammenfinden. Man arbeitet mit renommierten Gastdirigenten.

Wie lange es dauern wird, bis das neue Orchester seinen eigenen Klang findet, bleibt abzuwarten. Der Verlust eines in der neuen Musik so erfahrenen Orchesters ist für die Musikwelt riesig.

Das neue Saisonprogramm ist attraktiv, etwas konventioneller als die früheren Programme zwar, aber es bietet mehr Uraufführungen als in den meisten Jahren der letzten Dekade des SWR Sinfonieorchesters. Viel neue Musik wird es also weiterhin zu hören geben, das ist doch immerhin ein leichter Trost.

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