Isolde, die erste Tochter von Cosima und Richard Wagner, hatte ihrem Vater zu seinem 67. Geburtstag «Rosenstöcke zum 22. Mai 1880» geschenkt: über 60 von der damals 15Jährigen gezeichnete und kolorierte Bilder. Isolde hatte dafür Szenen aus Wagners autobiographischen Aufzeichnungen «Mein Leben» ausgewählt, möglicherweise mit Cosimas Beratung. Ein Blatt illustrierte jeweils ein Lebensjahr Wagners und zierte als Manschette einen hochstämmig blühenden Rosenstock.
Die Aquarelle ermöglichen neue Perspektiven auf die Wagner-Familiensaga und auf Isolde. Die «arme, glänzende, stürmische Isolde, die nur zur Freude geboren zu sein schien», wie Friedelind Wagner in ihrer Autobiographie schrieb. Friedelind ist die älteste Tochter von Siegfried und Winifred Wagner, die ihre Tante Isolde nicht mehr persönlich kennen gelernt hatte.
Genau wie Isolde
Für Friedelind Wagner war Isolde die faszinierend rätselhafte Unbekannte. In ihrem Buch beschreibt sie, wie ihre Schwestern sie selbst als Kind mit der Tante verglichen, wenn sie schreiend durch den Garten tobte. Sie riefen dann: «Genau wie Isolde», aber nur wenn Cosima es nicht hören konnte. In Grossmutters Gegenwart wagte niemand den Namen ihrer einstigen Lieblingstochter zu erwähnen.
«Die Erzählungen über die sagenhafte Isolde haben mich stets gefesselt, (...). Während Daniela und Eva ihre Mutter respektvoll verehrten, ja, sie fürchteten und sich bemühten, Musterbilder von korrektem Benehmen zu sein, kümmerte sich Isolde wenig um Cosimas zeremonielle Haltung und behandelte sie mit nachlässiger Zuneigung: 'Aber, Mama, das ist ja Unsinn, was du sagst', hatte sie oft erklärt und ihre Mutter hatte dazu begeistert gelächelt.»
Isoldes Rosenstock-Bilder-Galerie, damals aufgebaut in der Villa d’Angri in Neapel, rührte die Eltern, wie Cosima schrieb: «Unter Weinen und Schluchzen dürfen unsere Seelen ineinander fliessen (....). Richard verweilt eine Stunde, sieht Loldi’s Kompositionen durch.» Neun Tage später berichtet Richard Wagner König Ludwig II. voller Stolz von der «passioniertesten Malerin» Isolde und schickt zwei ihrer Zeichnungen mit.
Isoldes Enkelin und die Rosenstöcke-Bilder
Isoldes einzige lebende Nachfahrin und Enkelin Dagny R. Beidler hat nun diese Bilder unter dem Titel «Für Richard Wagner! Die Rosenstöcke-Bilder seiner Tochter Isolde» herausgegeben. Sie hatte ihre Grossmutter Isolde, die mit 54 Jahren an Tuberkulose starb, nicht mehr kennen gelernt. Franz W. Beidler, ihr Vater, der erste Enkel von Richard und Cosima, übermittelte ambivalente Erinnerungen – und so ist sie auch nur zufällig auf diese Sammlung gestossen: «Im Wagner Archiv in Bayreuth fragte mich Dr. Gudrun Föttinger: ‚Wissen Sie überhaupt, dass es noch eine Mappe gibt mit solchen Bildern?’»
Nein, das wusste Dagny R. Beidler nicht – und machte sich ans Werk. Sie begann jedes Bild zu dechiffrieren, einzubetten in den zeitgeschichtlichen Kontext – und jede Manschette mit einem Kommentar zu versehen. Und sie wunderte sich über manches Motiv und manche Auslassung:
«Zum Beispiel 1873 hat es ein Bild, wo man links und rechts den Chor sitzen sieht, die improvisierte Bühne ist mit Girlanden verziert, und in der ersten Reihe vorn sitzt die ganze Familie Wagner, aber alle mit dem Rücken zum Betrachter und zum Publikum. Liszt ist dabei, Richard Wagner, alle Kinder sind dabei, sie hat das Richtfest des Festspielhauses miterlebt.»
Viele Lücken
Aus der Perspektive einer tierliebenden jungen Frau ist Wagners Hund Robber von Bedeutung. Im Jahresblatt 1840 platziert Isolde ihn links oben in einem Medaillon, jaulend. Auch hier liefern Beidlers kundige Erläuterungen «Aha»-Erlebnisse: Robber war in Paris verloren gegangen. Als Richard Wagner ihn ein Jahr später auf der Strasse wiederfand, wich Robber «aus Furcht vor einer Züchtigung» scheu zurück – und verschwand erneut.
Aber: «Erstaunlich ist, dass Isolde alles Persönliche auslässt. Cosima taucht nicht auf, Wagner selbst ab und zu als Figur». Etwa bei der Regiearbeit für den «Ring», vor einer Beethovenstatue kniend, komponierend und Artikel verfassend oder aber auf einer Chaiselongue ruhend.
Minna Wagner, mit der er in erster Ehe 30 Jahre verheiratet war, kommt nicht vor und die Revolutionsjahre 1848 und 1849 bleiben eigentümlich blass: Keine Fluchtzeichnung – gar nichts. Sie beschränkt sich auf das Werk, auf die Bücher, die er geschrieben hat – nicht auf die tatsächlichen Revolutionsereignisse. Für 1849 zeichnet Isolde sorgsam das Medaillon der Göttin der Athene und Wagners Buchtitel «Kunst und Revolution» und «Kunstwerk der Zukunft».
Ein originelles Bilder-Lesebuch
Entstanden ist ein originelles Bilder-Lesebuch, das Wagners Bühnenfiguren mit Vorstellungswelten und Backstage-Stationen kombiniert. Aus dem Blickwinkel einer 15Jährigen, die im Wagnerkosmos zu Hause ist. Obwohl sie und ihr Sohn Franz 1914 in einem skandalösen Prozess nicht offiziell als legitime Nachkommen Richards anerkannt wurden, lange nach seinem Tod.
«Vor fünfzehn Jahren wurdest du geboren:
Da spitzte alle Welt die Ohren;
Man wollte »Tristan und Isolde« –
Doch was ich einzig wünscht’ und wollte
Das war ein Töchterchen: Isolde!
Nun mag sie tausend Jahre leben
Und Tristan und Isolde auch daneben!
Vivat hoch! R.W.»
(Vermutlich in Isoldes Handschrift überliefertes Gedicht, das Cosima ihrem Tagebucheintrag vom 10. April 1880 beifügte, an Isoldes 15. Geburtstag.)