Zum Inhalt springen

Header

Inhalt

Wagner im Ring Richard Wagners Flucht in die Schweiz

Steckbrieflich gesucht flieht Richard Wagner 1849 in die Schweiz. Seine Zeit im Exil ist so kreativ wie turbulent: Er findet seine Muse, experimentiert mit Drogen und beginnt damit, die grösste Apokalypse der Operngeschichte zu komponieren.

Kein Künstler, sagt man, sei so deutsch wie Richard Wagner: 1849 stand er auf den schwarz-rot-goldenen Revolutionsbarrikaden, später diente er Märchenkönig Ludwig II., wurde nach seinem Tod von Hitler vereinnahmt und wird bis heute – unter anderen von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel – in Bayreuth gefeiert. Vor 200 Jahren wurde Richard Wagner geboren. Zu Lebzeiten und nach seinem Tod hat ihn die deutsche Geschichte wie ein Schwamm aufgesogen. Was dabei oft vergessen wird: Eine der wichtigsten Phasen seines Lebens hat Richard Wagner in der Schweiz verbracht, hat im Zürcher Exil sein gesamtes spätes Opernwerk geplant. Und dass Richard Wagner durch eine verhängnisvolle Affäre zum Erfinder der grössten Liebesoper der Welt wurde.

Die Schweizer Geschichte des Komponisten beginnt mit der Flucht aus Dresden. 1849 ging während des Maiaufstands das von dem Barock-Architekten Matthäus Daniel Pöppelmann errichtete Opernhaus am Zwinger in Flammen auf. Wagner jubelte. Die Revolution kam ihm gelegen. Schliesslich war der Kapellmeister pleite und hoffte auf einen Systemwechsel. Unter Pseudonym forderte Wagner sogar die Abschaffung des Geldes. Er besorgte Handgranaten für den Aufstand und polemisierte gegen den König. Aber die Revolution scheiterte, und der Komponist floh in letzter Sekunde. Sein Freund Franz Liszt organisierte und finanzierte die Fahrt ins neutrale Zürich. In Dresden wurden derweil Steckbriefe gedruckt, auf denen der Staatsfeind Richard Wagner gesucht wurde: «mittlere Statur, braunes Haar und Brille.»

Zürich war ein Luxus-Exil. Wagner residierte hier auf Kosten von Franz Liszt in der «Villa Rienzi» und lud allabendlich Gäste ein. Unter ihnen viele revolutionäre Flüchtlinge wie den Star-Architekten und Barrikadenbauer Gottfried Semper. Wagner inszenierte sich im eher biederen Zürich als Popstar in Seidenwäsche: Er lebte mit Papagei und Hund, betrog seine Frau, nahm Drogen und unterhielt seine Abendgesellschaften mit Endlos-Monologen. Manchmal trug er ganze Opernlibretti vor und übernahm alle Rollen selbst. Es wurde Alkohol getrunken, ab und an brachte Liszt bei seinen Besuchen Laudanum aus Paris mit – ein Getränk, das hauptsächlich aus Opium bestand: Die Modedroge des 19. Jahrhunderts, die auch Hector Berlioz und Charles Baudelaire inspirierte.

Villa Wesendonck, heute Museum Rietberg.
Legende: Die Villa Wesendonck im Zürcher Rieterpark beherbergt seit 1952 das Museum Rietberg. Wikimedia/Ikiwaner

Die Zürcher Gesellschaft fand Gefallen an Wagner. Aber der blieb, obwohl er als Dirigent von den Schweizern gefeiert wurde, ein Aussenseiter in der Provinz. An Liszt schrieb er 1852: «Mit mir geht es von Tag zu Tag einem tieferen Verfalle zu: Ich lebe ein unbeschreiblich nichtswürdiges Leben! (...) Kennst Du – Zürich??? Ich muss hier wahnsinnig werden, es ist nicht anders möglich!»

Die grösste Apokalypse der Operngeschichte

Tatsächlich nutzte Wagner das Exil, um sich zu sammeln. Statt um neue Partituren kümmerte er sich zunächst einmal um neue Gedanken. Statt Opern schrieb er politische und musikästhetische Schriften. Und zwischen 1850 und 1861 entwickelte er eine Art Lebensplan, dachte alle Opern vor, die er bis zu seinem Tod schreiben sollte: «Tristan», «Die Meistersinger von Nürnberg», «Parsifal» – und natürlich den «Ring des Nibelungen». Eine Tetralogie um die untergehende Welt. 14 Stunden Musik an vier Abenden! Die grösste Apokalypse der Operngeschichte. Wagner war klar, dass es kaum eine Bühne geben würde, die imstande wäre, ein derartiges Musik-Monstrum aufzuführen. Aber in Zürich hatte er Zeit, sich an die Arbeit zu machen, auch ohne Auftrag und Honorar und «ohne alle Rücksicht auf Aufführbarkeit der einzelnen Teile auf unseren Theatern», wie er in seiner Autobiografie «Mein Leben» betonte. Es sollte 35 Jahre dauern, bis Wagner nach dem ersten Es-Dur-Akkord im «Rheingold» die letzte Note unter die «Götterdämmerung» schrieb.

Wagner hat sein Werk stets an seine private Situation angepasst: War er pleite, forderte er die Revolution, beschäftigte er sich mit dem Buddhismus, wurde er zum Vegetarier. Seine Opern sind eine gigantische Privatreligion, und ihr grösstes Glaubensbekenntnis ist die Liebe. Sie erwischte Wagner in Zürich so heftig, dass er die unendliche Melodie des «Tristan» erfand, eine Oper über die Unmöglichkeit des Zusammenlebens, ein fünfstündiges Sehnen und Wollen, ein unerlöster Rausch – und ganz nebenbei: das Ende der Dur- und Moll-Harmonik.

Liebesschwüre zwischen den Noten

Gemälde von Mathilde Wesendonck.
Legende: Porträt einer Muse: Mathilde Wesendonck, 1850. StadtMuseum Bonn

Die wahre Isolde des Komponisten hiess Mathilde Wesendonck. Sie war die Ehefrau von Otto Wesendonck, einem reichen Seidenhändler, der seine Geschäfte hauptsächlich in den USA machte. Wagner und seine Frau Minna waren in das Gartenhaus der Wesendoncks mit Blick über den Zürichsee gezogen, und Mathilde genoss es, dem Komponisten zuzuhören und ihn zu bewundern – Minna regelte derweil den Alltag. Die Affäre erlebte ihren Höhepunkt, als Wagner die «Walküre» komponierte – eine Oper über verbotene Geschwisterliebe. In der Handschrift der Partitur haben Musikwissenschaftler merkwürdige Kürzel gefunden, die sie als Geheimbotschaften interpretieren. Über den Noten des Vorspiels notierte Wagner «G.s.M.», was als «Gesegnet sei Mathilde» übersetzt wird. Wenn der Held die Schönheit der Sonne feiert, ist zu lesen: «I.l.d.gr!!» – wahrscheinlich ein Kürzel für «Ich liebe dich grenzenlos».

Wagner schrieb schwärmerische Liebesbriefe ins Nachbarhaus: «Aber sehe ich Deine Augen, dann kann ich doch nicht mehr reden; dann wird doch alles nichtig, was ich sagen könnte! (...) Oh, da ist Ruhe, und in der Ruhe höchstes, vollendetes Leben!» Seiner Schwester berichtete Wagner, dass er der Geliebten das Gedicht «Tristan und Isolde» überreicht habe. Mathilde soll so begeistert gewesen sein, dass sie ihm gestand, am liebsten sterben zu wollen.

Der Beginn einer neuen Zeitrechnung

Zum Autor

Box aufklappen Box zuklappen

Axel Brüggemann ist freier Musikjournalist, Buchautor und Moderator. Zuletzt erschien von ihm «Genie und Wahn. Das Leben des Richard Wagner» (Beltz&Gelberg, 2013).

Doch die heimliche Liebe flog auf. Minna fing ein Paket mit dem fertigen Vorspiel zum «Tristan» und einem schwärmerischen Brief ab, in dem Wagner schrieb: «Nimm meine ganze Seele zum Morgengrusse!» Für Minna war die Sache klar. Einige Wochen später gab sie eine Anzeige im «Tagblatt» der Stadt Zürich auf, in der sie das gemeinsame Mobiliar zum Verkauf anbot. Unter anderem einen Spiegel, einen Spieltisch und einen Speisetisch für vierzehn Personen. Abzuholen bei «Frau Wagner auf dem Gabler in Enge, neben Herrn Wesendonck». Minna und Richard einigten sich, getrennte Wege zu gehen. Minna wollte zurück nach Dresden, er nach Venedig. Die Wesendoncks verreisten kurzfristig in den Urlaub. Fast scheint es so, als hätte Wagner die neue Lebensphase bewusst provoziert – wie so oft, wenn er sich mit Förderern oder Freunden überwarf, um ganz neu zu denken. Auf jeden Fall war die Zürcher Zeit beendet. Nach einer Odyssee durch Europa wurde Wagner durch die Liebe und Förderung von Ludwig II. erlöst. Er finanzierte dem Komponisten seine Zürcher Opern-Träume. Und statt Minna und Mathilde fand Wagner in der Tochter von Franz Liszt, in Cosima, jene Frau, die sein Bayreuth mit harter Hand führen sollte. Nach Zürich beginnt eine neue Zeitrechnung in Wagners Leben.

Meistgelesene Artikel