«Gustav Mahler war ein Perfektionist, nie zufrieden mit sich und seiner Musik. Sein überbordender Gestaltungswille zwang ihn nach jeder Aufführung zurück an den Schreibtisch, um sein Werk zu überarbeiten», erzählt Riccardo Chailly.
Chailly sitzt mit entspannt übereinandergeschlagenen Beinen in einem Sessel seiner riesigen Dirigenten-Suite in der Mailänder Scala. Er spricht mit Ruhe und Beiläufigkeit über die Getriebenheit des Eröffnungskomponisten am Lucerne Festival.
Aus nächtlicher Stille geboren
Im Interview gibt der neue Chefdirigent des Lucerne Festival Orchestra meist den unnahbaren Norditaliener. Vor dem Orchester jedoch agiert er sizilianisch eruptiv und passioniert. Chaillys Dirigate sind Ur-Erlebnisse, für Musiker wie Publikum.
Egal, ob er mit dem Concertgebouw Orchestra Amsterdam Bruckner und Mahler einspielte oder beim Gewandhausorchester Leipzig Bach, Beethoven und Brahms neu entdeckte: Seine in endlosen Nächten durchdachten Lesarten sind von packender Schlüssigkeit, aus der nächtlichen Stille geboren.
Seine Frau Gabriella, Partnerin und Verbündete seit Jahrzehnten, ist es, die ihn dann in die reale Welt zurückholen muss. «Ohne sie wäre ich nicht ganz», hat Chailly einmal über die Person gesagt, die diskret im Nebenzimmer raucht und telefoniert. Signora organisiert alle Termine und Verträge ihres berühmten Mannes.
Intensives Arbeitsleben
Auch Gustav Mahler lebte in fast symbiotischer Beziehung zu seiner Frau Alma, aber unter anderen Bedingungen und charakterlichen Konstellationen. Ein Vergleich verbietet sich von selbst. Allenfalls Parallelen gibt es.
Mahlers Direktorenposten an der Wiener Hofoper war ähnlich intensiv wie der Chaillys heute an der Mailänder Scala: eine Aufgabe, die kaum Zeit lässt für anderes.
Insofern fügen sich die sechs bis acht Wochen im Jahr beim Lucerne Festival Orchestra ideal in die engen Zeitpläne der Scala-Agenda. Für Chailly war dies eines der Hauptargumente, das Angebot anzunehmen.
Mahlers visionäre Kraft
Ausserdem war es Chaillys Lucerne-Vorgänger Claudio Abbado, der den damals 21-jährigen Komponistensohn 1970 zum Assistenten für die Sinfoniekonzerte des Scala-Orchesters berief.
«Erst durch Claudio habe ich die Musik Gustav Mahlers überhaupt kennengelernt», sagt Riccardo Chailly, der später als Chefdirigent in Amsterdam ins Epizentrum der Mahler-Pflege wechselte.
In den Archiven des Concertgebouw Orchestra werden bis heute die Mahler-Partituren Willem Mengelbergs gehütet. Mengelberg war einer der ersten Dirigenten von Weltrang, der die visionäre Kraft seines Zeitgenossen Mahler erkannte und sich für dessen Musik einsetzte. Eine Tradition, der sich Riccardo Chailly auch für Luzern verpflichtet fühlt.
Kein Aufwand wird gescheut
Mit Mahlers 8. Sinfonie, der «Sinfonie der Tausend», knüpft Chailly an Abbados legendären Luzerner Mahler-Zyklus an, indem er zugleich den fehlenden Schlussstein einfügt.
Die Achte ist die einzige der Mahler-Sinfonien, die Abbado nicht in Luzern dirigierte. Gerüchteweise, weil er keinen Zugang fand zu diesem Mammutwerk mit seinen drei Chören, acht Gesangssolisten, dem Knabenchor, einem maximal besetzten Orchester und dem philosophischen Überbau der vertonten Texte.
«Mahler hätte die musikalische Weltordnung neu definiert»
Chailly würde sich dazu nie einen Kommentar erlauben. Er spricht allein von seiner Verehrung fürs Werk, das er zuletzt in Leipzig dirigierte. Damals sass der Festival-Intendant Michael Haefliger im Publikum – Abbados Nachfolger für Luzern war gefunden.
Gustav Mahler mag mit seiner «Sinfonie der Tausend» die Dimensionen eines Klangapparats auf der Bühne ausgereizt haben.
Für Riccardo Chailly ist das Werk dennoch kein Endpunkt: «Ich bin überzeugt, dass Mahler nach seiner unvollendeten, auf die zweite Wiener Schule verweisenden 10. Sinfonie noch viel weiter gegangen wäre. Eine 11. oder 12. Sinfonie hätte die musikalische Weltordnung neu definiert. Allein – er starb einfach zu früh.»