Ja, sie ist gestresst und genervt, und sie sagt es mir auch ins Mikrophon. Doch möchte sie sich später von ihren Aussagen wieder distanzieren – die Geigerin, die ich im Gang des Radiostudios von Lugano antreffe.
Sie wartet darauf, dass Martha Argerich endlich zur angesagten Probe erscheint – sie ist bereits viel zu spät, wie es öfters vorkommt bei ihr. Ein für alle neues und nicht gerade einfaches Kammermusikwerk steht auf dem Programm. Eine erste Probe ist noch nicht zufriedenstellend verlaufen und am nächsten Tag ist bereits das Konzert.
Etwas chaotischer als gewöhnlich
Diese Begebenheit hat sich zwar schon vor einiger Zeit zugetragen, doch so oder ähnlich ist es beim «Progetto Martha Argerich» immer wieder zu erleben: dass alles etwas chaotischer zu und her geht als gewöhnlich.
Zum zwölften Mal hat dieses Jahr die Zusammenkunft der «musikalischen Familie» von Martha Argerich in Lugano bereits stattgefunden. Argerichs Familie besteht aus befreundeten Musikerinnen und Musikern. Alte Bekannte sind darunter, wie die Geigerin Dora Schwarzberg oder der Cellist Mischa Maisky. Vor allem aber spielt auch die jüngere Generation mit. Musikerinnen und Musiker, denen Martha Argerich einmal Starthilfe gegeben hat und die heute selber einen vollen Terminkalender haben. Den Juni halten sie sich aber nach wie vor frei, um in Lugano zu spielen. Und auch ein echtes Familienmitglied ist mit dabei: Argerichs Tochter Lyda Chen, die Bratsche spielt.
Den Platz in der Familie erkämpfen
«Martha bringt in ihrem Festival Leute zusammen», sagt der Pianist Alexander Mogilevsky. «Doch man muss sich in dieser Familie seinen Platz auch erkämpfen», ergänzt Dora Schwarzberg, «denn in kürzester Zeit muss jeder seine musikalischen Territorien kennenlernen.» Der Vergleich des Festivals mit einem grossen Familientreffen gefällt Schwarzberg, denn schliesslich gibt es in einer Familie all das, was es auch hier gibt: Streit und Harmonie, Konkurrenz und herzliches Miteinander.
Und um zur Geigerin im Gang des Radiostudios zurückzukehren: Natürlich ist Martha Argerich schliesslich doch noch zur Probe erschienen, und natürlich war der Stress am nächsten Tag wie weggeblasen, beziehungsweise: er hat sich in ein intensives Konzerterlebnis verwandelt. Denn davon lebt Martha Argerich und also auch ihr Progetto: Dass die Dinge im Hier und Jetzt passieren. Ohne Spontaneität geht gar nichts.