Luzern, in den 1930er-Jahren: Der Stadtpräsident Jakob Zimmerli hegt hochfliegende Pläne, obwohl die Stadt zu dieser Zeit von immer weniger Touristen besucht wird. Die Wirtschaftskrise wirft ihre Schatten bis nach Luzern; höchste Zeit also, zusammen mit der Verkehrskommission und dem Kulturkomitee das Kerngeschäft der Stadt ohne Industrie zu stärken – etwa mit dem Bau eines neuen Kunst- und Kongresshauses. Dort sollten künftig Konzerte der Extraklasse stattfinden, die ein internationales Publikum anziehen.
«Propagandistische Wirkung»
Damit werde Luzerns Name als «Fremdenplatz mit einem Ruck» wieder im Gespräch sein, heisst es 1937 im ersten überlieferten Protokoll der Initianten der Musikfestwoche: «Schon die Mitwirkung berühmter Dirigenten würde eine Sensation bedeuten und die Veranstaltung durch ihre propagandistische Wirkung auch wirtschaftlich rechtfertigen». Drahtzieher sind nebst dem Stadtpräsidenten der Dirigent Ernest Ansermet des exzellent aufgestellten Orchestre de la Suisse Romande und der einflussreiche Schweizer Konzertagent Ernst Schulthess.
Die Motive, Musikfestwochen ins Leben zu rufen, liegen damit offen: Musik sollte zum Motor für den kriselnden Tourismus werden, Prominenz für Sensationsmeldungen sorgen. Die Kunst und ihre Interpreten dienen dem, was man heute Standortförderung nennt. Eigentlich hätte man mit Richard Strauss, dem renommierten Komponisten, Dirigenten und ehemaligen Präsidenten der Reichsmusikkammer eröffnen wollen. Der erklärte Antifaschist Arturo Toscanini kam erst nach Strauss’ Absage ins Spiel.
Sanktionen gegen Nestbeschmutzer
Wer in der jüngeren Vergangenheit die Anfänge des Festivals in diesem nüchternen Licht betrachtete, galt als Nestbeschmutzer und musste mit Sanktionen rechnen. Der Stiftungsrat der Internationalen Musikfestwochen Luzern hatte 1988 einem Musikwissenschaftler eine weitere Nutzung des Archivs verboten und ihm damit verunmöglicht, über die Geschichte der Musikfestwochen zu promovieren. Anlass war ein Artikel in der Zeitung «Luzerner Neueste Nachrichten», der den Gründungsmythos der Festwochen hinterfragte. «Allzu schmeichelhaft ist die Vorstellung» von Luzern als «letzter Zufluchtsstätte des mächtigen Erbes deutscher, ja alpenländischer Kultur», schreibt Peter Bitterli und zeichnet vom Stadtpräsidenten das Bild eines «tatkräftig und zielstrebig für die Interessen Luzerns und seines Fremdenverkehrs arbeitenden Mannes. Züge eines Heros der Freiheit aber, eines Wilhelm Tell der freien Kunst sind keine zu erkennen.»
Die Gegenwart hält Einzug
Inzwischen hat sich das «Lucerne Festival», wie die Musikfestwochen seit 2000 heissen, gewandelt und eine künstlerische Öffnung vorangetrieben, die ihresgleichen sucht. Im Kern ist das Festival konservativ geblieben, noch immer reisen die besten Sinfonieorchester der Welt mit mehr oder weniger stringenten Programmen an. An den immer weiter werdenden Rändern jedoch regt sich die Gegenwart und sorgt für die notwendige Durchmischung des Publikums. Die neue Musik nimmt mit renommierten und jungen Akteuren einen ihr angemessenen Raum ein, ebenso hat die chic gewordene historische Aufführungspraxis ihren Platz.
Das ist mit Blick auf die 75-jährige Erfolgsgeschichte des Festivals alles andere als selbstverständlich und steht für ein inzwischen zeitgemässes Selbstverständnis. Dazu gehört ein entkrampfter Umgang mit der eigenen Geschichte: Das Archiv ist inzwischen zugänglich und es findet eine unzensierte Aufarbeitung durch Interessierte statt. Vor Erich Singer haben sich etwa die Musikpublizisten Fritz Schaub, Peter Bitterli und Verena Naegele eingehender mit der Geschichte beschäftigt und sind zu unterschiedlichen Einschätzungen gelangt.
Distanz trotz Nähe
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Erich Singer, der Autor des im Herbst erscheinenden Buchs «Lucerne Festival – Von Toscanini zu Abbado», deckt auf, ohne zu denunzieren und wahrt trotz seiner Nähe zum Festival (er war bis 2008 als Musikredaktor des Festivals tätig) Distanz. Der Tonfall ist unaufgeregt und im Grundsatz wohlwollend, dennoch kommt auch Ungemütliches zur Sprache. Anders als das Schauspielhaus Zürich etwa hatten die Verantwortlichen der Musikfestwochen keine Skrupel, 1942 Geld des Waffenindustriellen Emil Georg Bührle anzunehmen. Sein Hauptkunde war zu dieser Zeit das Deutsche Reich, das Auftragsvolumen bewegte sich jährlich zwischen 120 und 180 Mio. Franken. Während das Schauspielhaus den als «Blutgeld» bezeichneten Betrag von 2 Mio. Franken ablehnte, sind im Archiv der Festwochen eine Defizitgarantie von 100'000 Franken sowie ein Stiftungskapital von 1.5 Mio. Franken dokumentiert.
Besuchereinbruch wegen Wiener Schule
An anderer Stelle liest man bei Singer ungeschönt vom «Schock» über den Besuchereinbruch, als 1974 Musik der unbeliebten Wiener Schule das Publikum fernhielt: «Die Programme zogen fortan wieder grössere Bögen um das Œuvre der vermeintlich ‹Atonalen›». In der Tat, auf Hauptwerke etwa Arnold Schönbergs musste man nicht allein der alten Bühne wegen warten. 2006 dirigierte schliesslich Michael Gielen die Gurre-Lieder und 2012 brachte Sylvain Cambreling die konzertante Fassung von Moses und Aron auf die Bühne des KKL. Auch für den Nachfolger (eine Nachfolgerin gab es bisher noch nie) des jetzigen Intendanten wird es ab 2017 in Luzern weiterhin viel zu tun geben.