René Jacobs ist ein Phänomen. Seit einem halben Jahrhundert ist der heute 68-Jährige ein prägender Geist der historisch informierten Aufführungspraxis – einer, der weiterdenkt, der über einen unverkennbar eigenen Stil verfügt und der Moden in Gang setzt.
Angefangen hat der Belgier einst als Sänger. Schon während des Studiums wechselte er vom Tenor- ins Countertenor-Fach. Damals waren die hohen Falsett-Stimmen der Männer noch eine Rarität im Konzertleben und riefen beim Publikum hin und wieder irritierende Fragen zu ihrer vermeintlich uneindeutigen Geschlechtlichkeit hervor.
Erfahrungen aus dem Innenleben der Musik
Lange Jahre war Jacobs einer der Pioniere für hohe Männerstimmen. Er unterrichtete an der Schola Cantorum Basiliensis junge Nachwuchssänger, forschte in Bibliotheken und Archiven nach verschollenen Quellen und sang in unzähligen Barockopern mit.
1982 dirigierte er zum ersten Mal selbst. Eine unvergleichliche Erfolgsstory begann. Seine Erfahrungen aus dem Innenleben der Musik, die er einst als Sänger sammelte, und sein musikhistorisches Wissen – das der studierte Altphilologe in jungen Jahren sogar an Gymnasiasten weitergab – verbinden sich bei ihm zu ganz eigenen, musikalisch höchst individuellen Interpretationen.
Markenzeichen Farbigkeit
Zu seinen Markenzeichen gehört eine unvergleichliche Farbigkeit. Aus den Werken der Barockzeit, die neben der Melodie oft nur eine spärlich bezifferte Basslinie aufweisen – den Basso Continuo –, arrangiert er fulminante Instrumentalensembles. Wo andere Dirigenten die Sänger mit einem Cembalo und einem Cello begleiten lassen, hört man bei Jacobs Lauten und Theorben, Orgel, Harfe und nicht selten ein Consort mit Gamben.
All das ist historisch informierte Aufführungspraxis: «Im Prinzip war die Besetzung des Continuos frei», erklärt Jacobs. Varietas sei der Leitsatz damals gewesen – also Abwechslungsreichtum statt Langeweile.
Ein Händchen für Stimmen
Ein zweites Markenzeichen ist Jacobs ausgesprochen gutes Händchen für die Zusammenstellung von Sängerensembles. Die Gesangssolisten seiner Aufführungen und CD-Aufnahmen zeigen hinsichtlich des Stimmfaches, der Klangfarbe und des Temperaments eine sonst nur selten anzutreffende Homogenität.
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Dies gilt auch für die Einspielung von Haydns «Schöpfung», die 2009 beim Label Harmonia Mundi erschien. Zwei der Sänger, der Tenor Maximilian Schmitt und der Bariton Johannes Weisser waren auch beim Konzertabend in der Basler Martinskirche dabei (siehe Box Sendehinweis).
Kompositionstalent mit Humor
An Haydn bewundert Jacobs eigentlich alles: sein Kompositionstalent, seine Kunst, mit den vorgegebenen Formen spielerisch umzugehen. Vor allem aber: «Seine Musik hat nie etwas Eitles – und es gibt sehr viel Humor bei Haydn», sagt er.
«‹Die Schöpfung› enthält das, was man damals Tonmalerei nannte», schwärmt der Dirigent. «Wenn über die Schöpfung der Insekten gesprochen wird, dann hört man tatsächlich Insekten im Orchester. Ober beim Brüllen des Löwen: Da erklingt plötzlich ein Kontrafagott im Fortissimo. Das ist mit viel Humor gemacht – und war ziemlich neu für diese Zeit.»
In Mozarts Schatten
Viele von Jacobs CD-Aufnahmen – über 250 an der Zahl – sind Verkaufsschlager geworden. Ausser die Haydn-Platten: «Haydn verkauft sich nicht so gut. Er steht im Schatten von Mozart», erklärt Jacobs. «Mozart ist den Leuten bekannter, weil er ein kurzes, dramatisches Leben hatte. Haydn hatte ein langes, ruhiges Leben. Aber das heisst nicht, dass man dann kein grosser Künstler sein kann.»