Marco Arturo Marelli, als die Anfrage aus Bregenz kam: Was hat Sie bewogen, zuzusagen?
Eigentlich habe ich ja zuerst abgesagt. Für Spektakel und Klamauk bin ich nicht der Richtige. Darauf erwiderte die Intendantin Elisabeth Sobotka, dass sie gerne zur Oper zurück und eine konzentrierte Sache machen möchte. Darauf sagte ich zu.
Es gibt den Bühnenbildner und es gibt den Regisseur Marco Arturo Marelli. Wie arbeiten die beiden zusammen?
Der Bühnenbildner hat oft einen emotionalen Zugang zu einem Stück, der Regisseur einen intellektuellen, analytischen. Manchmal sind sich die beiden nicht einig – das muss ich dann zwischen den beiden in mir ausmachen. Manchmal ist es furchtbar. Der Bühnenbildner will auf keinen Fall einen bestimmten Naturalismus auf der Bühne haben, aber als Regisseur schätze ich das sehr.
Auf der Seebühne sehen wir 72 Meter chinesische Mauer – was hat es mit dieser Konstruktion auf sich?
Die Idee der Mauer hatte ich sehr früh, nämlich als ich zum ersten Mal in Bregenz war. Es war grau, es regnete, es war November. Mir war sofort klar, dass es farbig werden muss, vor allem auch, weil es ja ein farbiges, ein glühend emotionales Stück ist. Der zweite Grund, der für eine Mauer sprach, waren die zahlreichen Lautsprecher, die ich auf keinen Fall sehen wollte und die ich perfekt in den Steinen versenken konnte. Zudem hat die Mauer den Vorteil, dass sie wie ein Schalltrichter wirkt und dass der Klang nicht in den Weiten des Sees verschwindet.
Turandot, die Hauptfigur in Puccinis letzter Oper, ist wie alle Puccini-Heroinnen eine starke Frau. Aber im Gegensatz zu den anderen – Mimi, Tosca oder Cio Cio San – ist sie unsympathisch und trägt einen Panzer aus Eis um sich. Was hat Sie daran fasziniert?
Es gibt zwei Ebenen, die mich daran interessieren: einerseits Puccini, wie er mit seiner Person in die Geschichte verstrickt ist und mit der Partitur ringt, die er ja dann schliesslich auch nicht fertig machen konnte. Ich bin der Meinung, dass mit dem Tod Lius der Höhepunkt des Werkes erreicht war. Bis hierher ist Puccini gekommen, danach gibt’s nur noch ein paar Skizzen. Und nichts ist so schwierig, wie den Schluss zu inszenieren.
Die andere Ebene ist diejenige der Turandot, die ich als eine moderne Frau verstehe. Sie will sich den Mann, den sie heiraten soll, selber aussuchen. Und er soll nicht nur stark, sondern auch klug sein. Deshalb gibt sie ihm drei Rätsel zum Lösen auf. So ist es im Original, im persischen Märchen.
Ist das auch so bei Puccini?
Bei ihm kommt dieser abgrundtiefe Hass Turandots gegen Männer hinzu. Der geht auf die Geschichte von Turandots Urahnin zurück, die verschleppt und vergewaltigt wurde und daran gestorben ist.
Warum ist das für Turandot so wichtig? Warum prägt diese Geschichte vergangener Zeit ihr Leben derart? Es ist eine Maske, ein Schutzschild. Dahinter kann sie sich verstecken, niemand dringt bis zu ihr durch. Das aber hat zur Folge, dass sie völlig vereinsamt ist.
«Hoffnung» und «Blut» sind die Antworten auf ihre Rätsel. Hoffnung, ohne die wir nicht leben können, Blut, der Lebenssaft. Die dritte Antwort lautet «Turandot» – sie selber ist das Rätsel und möchte enträtselt oder erkannt werden.
Kehren wir nochmals auf die Seebühne zurück: Auf dem rechten Wehrturm der Mauer thront in 27 Meter Höhe ein hübsches kleines Teehaus. Sind Sie schwindelfrei, Marco Arturo Marelli?
Ja natürlich, ich war sehr oft dort oben. Aber es ist schon eine sehr steile und ordentlich gefährliche Treppe. Wer dort oben ist, muss sich anseilen.
Auf das Teehaus bin ich gekommen, weil Turandot gemäss Libretto «in der Nähe der Sterne» wohnt. Es könnte ihr Palast sein. Aber natürlich kann ich den Sopran nicht dort hinauf schicken, ihre Partie ist schwierig genug.
Sie arbeiten sehr oft mit Bühnenmodellen in stark verkleinertem Massstab.
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Ich mache manchmal sogar fünf davon. So arbeite ich die ganze Inszenierung im Modell durch, mache Notizen und fotografiere. Gerade bei Opern wie Turandot ist die Choreografie von entscheidender Bedeutung: Wo steht jemand wann, in welchem Verhältnis zu einer andern Person, wer ist oben, wer ist unten, wer steht links und wer rechts.
Aber neben den grossen kreativen Prozessen entsteht eine Oper am Schluss doch nur, weil man probt und probt und probt …
Hier in Bregenz ist die gute Organisation das allerwichtigste. Wir haben eine kurze Probezeit, wir haben den Faktor Wetter – dazu haben wir jede Rolle dreifach besetzt. Zum Entwickeln ist das hier nicht der richtige Ort.
Nochmals zu Turandot und Ihrer Inszenierung: Wo haben Sie richtig grosses Kino inszeniert?
Das ist ganz klar bei der Rätselszene. Eigentlich läuft da 20 Minuten lang gar nichts. Aber wir haben diese riesige Projektion einer Maske, die sich langsam und kaum merklich verändert: Sie lächelt, schliesst die Augen – und zerbirst am Ende. Dabei geht mir der Himmel auf.
Welche leisen Momente mögen Sie?
Davon gibt es viele. Aber der ergreifendste Moment ist Lius Tod. Das sind die letzten originalen Takte von Puccini, mit der Flöte und dem Chor, der «Pietà» singt. Das ist für mich ein Wunder.
Gab es bei der Premiere auch einen «Magic Moment»?
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Ich war hinter der Bühne bei den Kollegen, habe zu den Sängern geschaut und versucht, ihnen die Nervosität wegzunehmen. Am Schluss stand ich bei den Wasserfontänen, unglücklicherweise genau dort, wo sie losgingen. Ich kam pitschnass zum Applaus. Hätte ich mir eigentlich denken können, dass ich dort nicht stehen sollte. Das war mein «Magic Moment».