Als Erstes, überlegt sich Engstroem, will er hier oben tun, was er als Agent und Label-Manager nie tun konnte: Er will mit den Künstlern nicht über Geld, sondern über Musik und Kunst reden. Deshalb deckelt er von Anfang an die Gagen. Dafür bietet er einen Ort des Experimentierens, des Austauschs und der Freundschaft an. Jeder, der hier auftritt, soll etwas spielen, was er sonst noch nirgendwo gespielt hat. Und er soll es mit Künstlern tun, mit denen er noch nie auf der Bühne stand.
Nächtliche Jam-Sessions
Das Konzept tritt ins Schwarze. Denn ausserhalb von Verbier will man von den Geigern meist nur Mendelssohn hören, Cellisten müssen Dvorak spielen, die Pianisten Tschaikowsky. Zudem geben sich die Musiker stets nur die Klinke in die Hand: Der eine kommt, wenn der andere gegangen ist.
Anders in Verbier: Hier ist man zum Bleiben eingeladen, geht die Konzerte der anderen besuchen, probt tagsüber mit neuen Leuten – und nicht selten steigt spätnachts noch eine Jam-Session. Engstroems Überlegungen sind aufgegangen: Nach 20 Jahren kommen jährlich rund 50‘000 Leute ans Verbier Festival. Über 60 Konzerte finden statt, das Budget ist auf zehn Millionen Franken angestiegen.
Das Verbier-Erlebnis für alle
Während Engstroem erzählt, spazieren wir durchs Dorf. Kein erfreulicher Anblick: viel zu grosse Chalets und wuchtige Hotelkästen. «Stimmt», sagt Engstroem, «hier scheint man noch nichts gemerkt zu haben von der Krise.» In den Wintermonaten hat eine amerikanische Hotelkette im Hochpreis-Segment ein mehrteiliges Gebäude aus der Erde gestampft. Kostenpunkt für eine Nacht: knapp 500 Franken, im Winter das Doppelte.
Aber für Engstroem – Festivaldirektor durch und durch – sind das attraktive Möglichkeiten Sponsoren anzuziehen. Ein Drittel seines 10-Millionen-Budgets kann er über die Sponsoren decken, ein weiteres Drittel übernehmen Mäzene, den Rest decken die Kartenverkäufe.
Verglichen mit anderen Festivals sind die Preise moderat. Alle Proben, Workshops und Masterclasses sind sogar gratis und für alle offen. Ganze Familien setzen sich ins Festival-Zelt. Stört das die Musikerinnen nicht? Das gehöre zum Verbier-Erlebnis, so Engstroem.
Verbiers einmalige Intimität
Schaut man sich tagsüber im Dorf um, sieht man eine interessante Mischung von Leuten: verschwitzte Biker, Wandergruppen, Senioren, junge Leuten mit Instrumentenkästen und immer wieder bekannte Gesichter von Musikerinnen und Musikern. Beim Mittagessen auf dem Dorfplatz, beim Einkaufen im Käseladen oder einfach beim Flanieren. «Das ist die Intimität von Verbier», so Engstroem, «hier trifft man sich, lernt sich kennen und lebt während der Dauer des Festivals locker zusammen.» Etwas, was der geplagte Musik-Jetset sonst nie hat, sich aber offenbar wünscht. Das macht Verbier einmalig.
Um die Gunst der Einheimischen musste Engstroem lange kämpfen. Man wollte zwar ein glanzvolles Festival, an den Konzerten traf man aber ausschliesslich «Ausländer» und «Üsserschwyzer», womit auch Besucher aus Lausanne oder Genf gemeint sind. Noch heute geht Engstroem regelmässig durchs Dorf und verteilt Gratiskarten. Oder er fragt die Kassierin in der Migros oder im Coop, ob sie Lust auf ein klassisches Konzert hätten.
Junge Musiker mischen das Dorf auf
Sendung zum Thema
Auch mit der altersmässigen Durchmischung des Publikums hat Engstroem keine grösseren Probleme. Zum einen liegt Verbier, mit seinen knapp 1600 Metern über dem Meer, für viele ältere Menschen zu hoch. Zum andern holt das Festival neben den jungen Solistinnen jedes Jahr auch eine Hundertschaft von Nachwuchsmusikerinnen und -musikern aus der ganzen Welt, die in verschiedenen Orchestern und Kammermusik-Gruppen spielen, und von den besten Dirigenten und Lehrerinnen angeleitet werden.
Daneben bevölkern sie das Dorf und füllen die Beizen. Im Pub Mont Fort trifft man sich zum Essen, Trinken, Feiern und Darts spielen. Dinge, die junge Musikerinnen und Musiker in ihrem Alltag kaum tun: «Viele dieser jungen Hochbegabten spielen jeden Tag an einem andern Ort auf der Welt. Sie leben in einer Welt voller Erwachsener: Agenten, Presseleute, Veranstalter, Sponsoren, Mäzene – alles Erwachsene. Hier in Verbier sind sie unter sich, und das geniessen sie.»