Sie sieht aus wie das leibhaftige Klischee der zarten Asiatin: klein, schmal, mit schönem langem Haar und gehüllt in ein fedriges Etwas von Kleidungsstück. So steht sie in der Tür ihrer Wohnung in Berlin-Charlottenburg. Eine Elfe? Tja, das Äussere täuscht wieder mal, dahinter verbergen sich ein scharfer Geist und ein eiserner Wille.
Ligetis Urteil war schonungslos
Am grossen Tisch im Wohnzimmer beantwortet Unsuk Chin alle meine Fragen offen und direkt – und wirkt dennoch seltsam distanziert. Sie ist es halt gewohnt, allein ihren Weg zu gehen, und der ist ziemlich verrückt.
Mit 24 Jahren kommt sie allein aus Seoul nach Hamburg. Sie hat bereits ein abgeschlossenes Kompositionsstudium hinter sich und eben ihren ersten grossen Preis gewonnen. Deutsch kann sie schon und will jetzt unbedingt Unterricht nehmen beim berühmten György Ligeti, Grossmeister nennt sie ihn, denn seine Musik ist die Einzige, die ihr gefällt.
Das Wetter ist schlecht, alles ist grau, die Leute sind unfreundlich und korrigieren sie die ganze Zeit. Und dann Ligeti. Er schaut sich ihre Partituren an und befindet: Toll gemacht, brillantes Handwerk, virtuose Musik – aber schmeiss alles in den Kübel, denn das bist nicht du. Such deine eigene Sprache.
Durch den Tunnel
Unsuk Chin kanns nicht fassen. Sie isst nicht mehr, schwänzt den Unterricht und komponiert drei Jahre lang keinen einzigen Ton. Aber, erzählt sie, tief in sich drin weiss sie von Anfang an, dass Ligeti recht hat. Sie geht durch einen Tunnel, rettet sich in die elektronischen Studios von Paris und Berlin und entwirft ihre ersten Töne nach der Krise für Computer. Danach komponiert sie 15 Jahre lang mehr oder weniger für sich allein und ist eigentlich ganz zufrieden, weil alle sie in Ruhe lassen. Erst ums Jahr 2000 herum kommt der Durchbruch in London mit «Akrostichon-Wortspiel» für Sopran und Ensemble nach Lewis Carroll.
Versteckspiel und Geheimnisse
Heute kann sich Unsuk Chin ihre Aufträge auslesen. Grossen Erfolg feierte sie vor ein paar Jahren mit ihrer Oper «Alice in Wonderland», ebenfalls von Carroll. Der Autor mit seinem Sinn fürs Skurrile, Spielerische entspricht ihr voll und ganz, ihre nächste Oper wird «Alice hinter den Spiegeln» heissen.
Sie liebt es, ihre Musik als Versteckspiele und Vexierbilder zu inszenieren, in denen selten etwas so ist, wie es scheint. Das kann sie, weil ihr Kopf komplexe Vorgänge erfinden kann, die wir nicht verstehen, aber geniessen können. Denn Chins Musik ist oft einfach schön, manchmal energiegeladen, immer sinnlich, hie und da fast jazzig. Sie schichtet ihre Klänge aufeinander, kreuzt sie übereinander und lässt sie in verschiedenen Tempi und Rhythmen laufen, bis wir nicht mehr wissen, wo uns der Kopf steht.
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Die Sirenen schweigen
Das gilt auch für ihre Uraufführung in Luzern, die sie – mal wieder typisch – «Le silence des sirènes» nennt. Denn Sirenen singen ja eigentlich, sonst ist ja die ganze Verführungskraft weg. Singen wird auf jeden Fall die Sopranistin Barbara Hannigan, die den Ruf hat, fast alles mit Leichtigkeit zu bewältigen.
Allerdings ist Chin bekannt für extrem schwierige Partituren, hier zum Beispiel geht’s oft extrem hoch hinauf, Atempausen sind selten, und die Sängerin muss dauernd die Stimmung wechseln. Simon Rattle, der Dirigent der Uraufführung, hat jedenfalls Unsuk Chin nach Erhalt der Noten eine SMS geschrieben: «Kein Mensch auf der ganzen Welt», tippte Sir Simon, «kann dieses Werk singen.»
Mal sehen.