Ein dumpfes Brummen liegt monoton unter den bezaubernden, engelsgleichen Stimmen der acht Frauen, die den lettischen Chor Putni bilden. Es klingt fast so, als würde ein Metallstuhl auf einem Steinboden hin- und her rutschen. Das eindringliche Geräusch kommt aus einem Instrument namens Brummtopf, das im Mittelalter in ganz Europa verbreitet war.
Bei den Proben des Schweizer Ensembles Camerata Variabile und dem Chor bescherte der Brummtopf erinnerungswürdige Momente: «Wir lagen am Boden vor Lachen, weil das ein ziemlich obzönes Geräusch ist», erzählt die Schweizer Komponistin, Violinistin und Leiterin des kulturübergreifenden Projektes Helena Winkelman.
Auch bei der Aufführung in der Kirche St. Martin in Altdorf am Samstagabend konnten sich die Musiker und Sängerinnen das Lachen kaum verkneifen – was zu dem Schweizer Lied «Du lustige Filifausel» auch irgendwie passt. Denn in diesem Liebeszauber wird die freie Liebe thematisiert – so interpretiert es zumindest Winkelman: «Das Lied ist aus dem Jahre 1884 und rät – ganz im 68er-Geist – dass der Mann seine Liebste doch in Papier einwickeln und ein Bändeli drum schnüren soll, wenn er sie besitzen will.»
Magische Musik mit Schweizer Bannsprüchen
Die lustige Filifausel mit dem Brummtopf ist ein Moment der Leichtigkeit in einem Programm, das vor allem mit seiner beschwörerischen Kraft in den Bann zieht. Lettische Texte, mit denen beispielsweise das Haus nach einem Todesfall gereinigt wird, stehen neben Schweizer Mundarttexten, die vor Alpträumen oder Blitzen schützen sollen.
Diese mächtigen Worte wurden von Helena Winkelmann vertont: Die Musik ist beschwörerisch, mal zart, mal wuchtig, rhythmisch komplex und voller Repetitionen. Neben den obertonreichen Stimmen des Chores erklingen Streicher, Klarinette, Hackbrett, Zink, Tierhörner – typische Ritual-Instrumente wie Rasseln und Trommeln geben die rhythmischen Konturen.
Zaubersprüche in Lettland
Vor zwei Jahren begann sich Helena Winkelman mit dem lettischen Kulturgut der Zaubersprüche und Beschwörungsformeln aus vorchristlicher Zeit zu beschäftigen. «Es sind vor allem Wünsche für Liebesglück, Gesundheit und Schutz, welche die Gedanken fokussieren», erklärt Winkelman. In Lettland sind die alten Sprüche immer noch sehr präsent: Auch junge Leute können viele solcher Sprüche auswendig.
Im Sammeln von Zaubersprüchen sind die Letten Weltmeister: Der Schrank, in denen die Spruchweisheiten des lettischen Volkskundlers Krišjānis Barons (1835-1923) aufbewahrt sind, ist eine Art Nationalheiligtum. Für Winkelman verrät diese bewahrte Kultur auch einiges über die eigenen Wurzeln: «Ich denke, dass sich darin auch gewisse Dinge zeigen, die es bei uns in der Schweiz nicht mehr gibt. Wir sind einfach näher an Rom, so konnten die Volksbräuche vom Christentum viel nachhaltiger unterdrückt werden».
Aus alt mach neu
Um in der Schweiz Spuren von Zaubersprüchen zu finden, musste Helena Winkelman lange recherchieren. In Bibliotheken fand sie zwar keine Zaubersprüche, aber Sammlungen von Volksliedern. Und deren Wortmagie glich den lettischen Sprüchen: «Ich habe manchmal das Gefühl, dass das Weltbild im damaligen Europa viel einheitlicher war, als es heute ist.»
Die Lücken in der Tradition kurbelten Winkelmans Phantasie an – sie komponierte neue Melodien, die sich um das alte Material ranken. Dabei nahm sie bewusst auch auf die lettische Chortradition Rücksicht: «Bei jedem kulturellen Austausch ist es wichtig, dass es authentisch bleibt. Es wäre unangemessen, wenn ich von Putni verlangt hätte, dass sie bei den Schweizer Liedern jodeln.» Die richtige Aussprache des «ch» in den Mundarttexten musste sie dem Chor aber dennoch beibringen.
Die Camerata Variabile Basel und der lettische Chor sprechen eine musikalische Sprache, in der das Alte und das Neue sowie das Nordische und Schweizerische miteinander verschmelzen. Winkelmans Kompositionen wirken dadurch wie aus Zeit und Raum enthoben.
In dieses Vakuum möchte sie ihr Publikum einladen: «Ich glaube es ist der Ursprung der Magie, einen Moment der Zeitlosigkeit zu schaffen. Das ist, wie wenn man beim Schaukeln oben ankommt: Es entsteht ein Moment der Schwerelosigkeit, in dem die Zeit anhält.»