Konzertstreeam
Sie liegt vergraben unter einem Berg von Decken und Kissen. Nur ihre Haare quellen hervor. Ihre wilde, jetzt ganz graue Mähne. Die Kamera steigt ihr nach in das zerwühlte Bett, zeichnet auf, wie die «Löwin» später verschlafen und mit einer Tasse Kaffee in der Hand ins Plaudern kommt. Sie redet über Musik. Über ihre Musik. Vor allem also über Schumann, den sie so liebt. Auch als Mensch. Und ja, natürlich auch über Beethoven, Mozart und Schubert. Aber die sind einfach nicht so wie Schumann.
So erzählt sie dies und das – und sagt doch erstaunlich wenig. Nur immer wieder: «Ich weiss nicht» und «Ich kann nicht erklären warum». Dieses beinahe trotzige Misstrauen gegenüber den Worten.
Und diese köstliche Art, wie sie das scheinbar Unaussprechliche kultiviert. Wie ihr Blick, ihre Mundwinkel, ihre ganzen Gesichtszüge vielsagend weiter reden, wenn sie schlicht bemerkt: «Worte sagen gar nichts aus».
Hartnäckige Aura des Geheimnisvollen
Man hört ihr gerne zu, sie spricht wie eine Märchenerzählerin. Dabei bleibt vieles im Vagen und Ungefähren, was jene Aura des Geheimnisvollen, die La Martha seit jeher so hartnäckig umwabert, umso mehr nährt. Manche halten ihre Sprachlosigkeit für undifferenziert.
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Sie sind fassungslos darüber, dass die pianistischen Wunder, die diese Frau vollbringt, oft eben keine tiefsinnigen, wortreichen Reflexionen nach sich ziehen. «Maman liebt keine Definitionen», erklärt ihre Tochter Stéphanie im Film. Oder, wie schon ihr Vater prophetisch an seinem kleinen Mädchen beobachtete: «Sie sagt Dinge, ohne sie zu sagen».
Und auch sonst bietet die grosse Argerich so ziemlich alles auf, was nötig ist, um diesen Nimbus zu pflegen: Jähe Konzertabsagen, eine überaus anstrengende Launenhaftigkeit, einen Hang zum Chaotischen, wilde Geschichten über ihr Privatleben, die einhergehen mit einer legendären Scheu vor Berichterstattung.
Kaum, dass sich «Madame No» einmal preisgeben würde. Selbst in ihren Konzerten verbirgt sie ihr herrliches Gesicht, das man so gerne betrachten möchte, am liebsten hinter einem Vorhang aus Haaren.
Sehnsucht nach Nähe
Stéphanie, die das Lächeln ihrer Mutter geerbt hat, war elf Jahre alt, als sie eine Videokamera geschenkt bekam. Mit Linse und Film gewappnet, pirscht sich das Mädchen also an Maman heran, heftet sich an ihre Sohlen, will in extremen, Nahaufnahmen ihrer Augen und ihres Gesichts immer wieder ganz in sie hinein kriechen. Ihr nahe sein vielleicht auch nur.
So behaglich und mütterlich die Argerich auch wirken mag, so war sie doch immer mehr Künstlerin als Mutter. Konventionen sind ihr gänzlich unwichtig, da ist sie ganz Bohéme.
Drei Töchter, drei verschiedene Väter, eine verwirrte Familiengeschichte und ein Leben in der Kommune mit ausgelassenen jüdischen Tänzen und warm zerwühlten Betten am Mittag. Ungemein liebenswert erscheint ihre Lässigkeit. Man möchte sie barfuss Klavier spielen sehen.
Das Unkonventionelle wirkt reizvoll und fühlt sich dennoch manchmal ungeheuer kalt an. Argerichs erste Tochter Lyda wuchs anfangs in einem Heim auf, weil ihrer Mutter das Sorgerecht entzogen worden ist. Sie kann heute nicht mehr genau sagen, was da los war. Es ist schwer zu erklären, sagt sie.
Wenn sie mit Stéphanie auf langen Zugfahrten unterwegs war, stieg sie bei Zwischenhalten manchmal aus, um sich etwas zu Essen zu kaufen oder eine Zigarette zu rauchen. Das Mädchen war ständig in Angst, ob ihre Mutter wieder einsteigen würde, bevor der Zug abfuhr.
Zauber der Unschärfe
Es kann sehr weh tun, die Tochter einer Göttin zu sein. Tapfer offenbart die filmische Spurensuche der Tochter kleine Irritationen, grosse Wunden und intime Momente. Die Geburt ihres Enkelsohnes, bei der die Argerich seltsam abwesend im Mantel und mit Tasche in der Hand neben dem Bett ihrer Tochter steht.
Ihr extremes Lampenfieber, das die grosse Pianistin hinter der Bühne aufgewühlt und völlig hilflos umher treiben lässt. Momente von Einsamkeit und Traurigkeit, über die sie spricht, als wüsste sie nicht, dass die Kamera läuft. Doch oft genug wendet sich die Argerich entnervt ab. Sucht sich dem gierigen Kamerablick und der Zudringlichkeit ihrer Tochter zu entwinden.
Mag sein, dass diese Frau weiss, wie man ein Mysterium aus sich macht. Man kann das für schrullig halten oder auch prätentiös. Und gleichzeitig macht diese merkwürdige Abgewandtheit auch irgendwie dankbar. Denn Martha Argerich ist sperrig und widersprüchlich.
Sie lässt Unschärfe und Vagheit zu, muss nicht alles verbal ans Licht zerren. Eine Frau, die sich mit aller Kraft einen Zauber bewahren will, der selten geworden ist und für den man La Martha heftig und vollkommen uneingeschränkt bewundern muss – ausser man ist ihre Tochter.