Zweifelslos war es nicht der allerglücklichste Anfang eines Interviews: Ich fragte den Leiter des Hilliard Ensemble Paul Hillier als Erstes, warum dieses sich so nenne. Hillier hatte diese Frage wahrscheinlich schon zu oft gehört und antwortete etwas bissig: «So that we have something to talk about in interviews».
Radikale Abkehr von der üblichen Praxis
Das war Mitte der 1980er-Jahre, das Ensemble existierte bereits seit zehn Jahren und setzte in der Interpretation von Renaissancegesang ganz neue Massstäbe. Ganz unumstritten war es allerdings nicht. Seine solistische Besetzung mit vier Sängern war eine radikale Abkehr von der üblichen Praxis, diese Musik (wenn überhaupt) von Chören singen zu lassen.
Doch das Ensemble war überzeugt davon, dass es für die Musik dieser Epoche keine grosse Besetzung braucht – ja dass diese historisch eigentlich falsch war. Deshalb übrigens auch der Name Hilliard: Nicolas Hilliard war ein Miniaturen-Maler der englischen Renaissance.
Hinzu kam, dass das Hilliard Ensemble grösstmögliche Präzision und Homogenität anstrebte und deshalb auch auf Vibrato verzichtete. Wie auch meist auf Sopranistinnen: Die Oberstimme sang in der Regel der Countertenor David James, dessen «weisser» Klang ein charakteristisches Merkmal des Ensembles war.
Ambi-Musik für Partys?
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Manchen ging das damals zu weit: «Magermilch» sei das, war manchmal zu hören, farb- und blutlos – eine fade Angelegenheit mit der emotionalen Wärme eines Kühlschranks. Andere vermuteten sogar, es gehe dem Ensemble (und seinem CD-Label) gar nicht um die Interpretation der Werke, sondern um Ambi-Musik für stilvolle Partys.
Egal, welchen Gebrauch man von seinen Aufnahmen auf Partys machte – eine Zeitlang liefen dort ja bevorzugt auch die gregorianischen Gesänge der Mönche von Santo Domingo de Silos –, das Hilliard Ensemble machte sich daran, über die Jahre das Repertoire der Renaissancemusik von 1400 bis 1600 auszuloten.
Trouvaillen der Alten Musik kamen so ans Licht: geistliche Musik vor allem, von Komponisten wie Dufay, Dunstable, Josquin, Lasso oder Palestrina. Aber nicht nur: Mit hörbarem Vergnügen und meisterlicher Virtuosität legte das Ensemble gekonnt auch Josquins Gassenhauer «Il Grillo» hin.
Ausverkaufte Kirchen
Dann die Überraschung: Gegen Ende der 1980er-Jahre wechselte das Ensemble von EMI zu ECM und nahm dort in der Folge mehrere Werke des estnischen Komponisten Arvo Pärt auf. Dessen oft geistlichen Vokalkompositionen beruhten auf dem Studium und der Aneignung genau der Renaissancemusik, die das Ensemble sang. Sie stellten quasi eine zeitgenössische Antwort darauf dar – eine zeitgenössische, aber nicht avantgardistisch-moderne.
So sorgten Aufführungen von Pärts «Passio» mit dem Hilliard Ensemble problemlos für ausverkaufte Kirchen wie etwa das Zürcher Grossmünster. Auch das kam manchen gar nicht gelegen: Hatte diese religiöse Wohlfühlmusik, diese ganze Hinwendung zur Musik der Vergangenheit nicht etwas Reaktionäres?
Auch dies brauchte das Ensemble nicht zu kümmern, sang es doch ebenfalls Musik, die durchaus modern und unverdächtig war: So etwa den «Jisei»-Zyklus von Heinz Holliger. David James interpretierte solistisch dessen Robert-Walser-Zyklus «Abseits». Und man gab bei mehreren Komponisten neue Werke in Auftrag.
Konstante bis zuletzt: der Countertenor David James
Allmählich gab es Veränderungen, es stellten sich vielleicht auch Ermüdungs- oder Abnützungserscheinungen ein. Bassist Paul Hillier verliess als erster – und nicht ganz ohne Turbulenzen – das Ensemble und verfolgte danach eine eigene Dirigentenkarriere.
Auch andere Sänger gingen und wurden ohne grosse Probleme durch jüngere ersetzt. Nur einer blieb – musste bleiben: David James. Ohne seine charakteristische Countertenor-Stimme wäre das Hilliard Ensemble nicht mehr das Hilliard Ensemble gewesen. Jetzt löst sich das Quartett auf und absolviert in diesem Jahr noch eine lange Abschiedstournee.