Ein Sommernachmittag im Berner Oberland. Harmlose Wolken ziehen über das Berg-Panorama, eine Familie spaziert vorbei. Schweizer Dorf-Alltag soweit. Doch nein: Die auffällig blonde Frau muss jene Pianistin sein, die in den letzten Jahren die Klassikbranche gehörig aufrüttelte. Ein Star der neuen Klassik-Generation: Valentina Lisitsa.
Seitdem die Ukrainerin 2007 ein Video auf YouTube geladen hat, startet sie durch. Heute hat sie Fans rund um den Globus, ihre inzwischen zahlreichen Videos werden millionenfach geschaut. Das sind Zahlen, wie wir sie aus dem Popbusiness kennen. Hier in Zweisimmen, knapp 3000 Einwohner, ist sie für ihre Deutschschweizer Konzertpremiere am Menuhin Festival, das in und um Gstaad stattfindet.
YouTube, die Hochglanzbroschüre
Das Etikett ist gesetzt: Valentina Lisitsa ist der «YouTube-Star der Klassik». So oder ähnlich wird sie gern genannt. Und die Fragen lauten seither: Ist das die Popgeneration der Klassik? Gehört YouTube nun zur Klassikausbildung? Und vor allem: Schafft es Valentina Lisitsa, ihre virtuellen Fans in die realen Hallen zu locken? Sie selbst sagte einmal: YouTube sei die Hochglanzbroschüre. Das Ziel: Menschen in die Konzertsäle bekommen.
Diese Fragen stellen sich auch in Zweisimmen, wo von YouTube und Starkult nichts zu spüren ist. Das Konzert fand in der schönen reformierten Kirche statt, die Geranien im Pfarrhaus nebenan blühten prächtig.
Sie hält ihre Fans gekonnt bei Laune
Lisitsa trat schon in der Royal Albert Hall oder der Berliner Philharmonie auf, und betrat nun die kleine Kirche, in der einige Plätze leer blieben. Die Geschichte des Klassikstars scheint noch nicht komplett im Berner Oberland angekommen zu sein. Bei einigen aber schon: Ein Gast sagt, er sei per Zufall auf Lisitsa gestossen, als er im Internet nach Beethoven-Sonaten suchte, «es hat mich umgehauen». Aber Beethoven gab es in Zweisimmen nicht: Lisitsa spielte Werke von Bach/Busoni, Chopin und Liszt. Ihre Fans bestimmten das im Vorfeld aus acht Vorschlägen auf Facebook (siehe unten).
Lisitsa hält ihre fast 150‘000 YouTube-Abonnenten , 65’000 Facebook-Fans und 8000 Follower bei Twitter gekonnt bei Laune. Ihre Videos kommen ohne Firlefanz aus, sie zeigen Lisitsa, wie sie fertige Stücke spielt, manchmal auch beim Üben. Eine Frau und ihr Flügel. Auf Facebook unterhält sie sich mit ihrem Publikum: Bedankt sich, postet Fotos, diskutiert über ihr Programm. Dass nicht irgendein Manager den Account betreut, merkt man schnell.
Auch politisch aktiv
Auch auf Twitter scheut sie Debatten nicht – doch die sind anderer Natur: Hier kommt die politische Valentina Lisitsa zum Vorschein, derzeit vor allem angesichts des Krieges in der Ost-Ukraine. Sie verbirgt ihre Enttäuschung über die politische Entwicklung nicht.
Lisitsa gehörte in der Ukraine zur russischstämmigen Minderheit und verliess das Land 1992. Auf Fragen von Fans, wieso sie es nicht beim Klavierspiel belasse und sich politisch äussere, kann sie harsch werden, wie sie des öfteren auf Twitter beweist.
Auf Augenhöhe mit den Fans
Fotos vom Auftritt? Twittern aus dem Konzert? Für Lisitsa alles kein Problem, «das ist doch toll, wie an einem Lady-Gaga-Konzert», sagt sie der «Sonntags-Zeitung». In der Kirche Zweisimmen hat dann niemand getwittert, soweit das auszumachen war, fotografiert auch nicht – es ging klassisch gesittet von statten.
Selbst nach vier Zugaben wollten die Zuschauer Lisitsa nicht gehen lassen, sie gab fleissig Autogramme, stand Rede und Antwort. Ob im virtuellen Raum oder live: Lisitsa scheut Nähe nicht, gibt sich auf Augenhöhe mit ihren Fans, ist nahbar. Davon können sich viele ein Stück abschneiden. Oder wie der 20-jährige Klavierstudent Simon Willi nach dem Konzert sagte: «Sie ist eine unglaublich gute Pianistin, aber da ist sie für mich eine von vielen. Vor allem wirkt sie für mich unglaublich authentisch.» Also macht wahrscheinlich nicht YouTube den Unterschied, sondern die Persönlichkeit Lisitsas.