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Weltklasse – Sommerkonzerte Nicht weniger als ein Ur-Erlebnis: Die Altistin Sara Mingardo

Sie könnte die Nase hoch tragen. Gemessen an der Verehrung, die die Altistin Sara Mingardo inzwischen weltweit erfährt. Doch auf Lob und Bewunderung reagiert die Venezianerin noch immer mit fast verlegener Bescheidenheit. Dieses Jahr eröffnet sie das Lucerne Festival.

Sicher, ihre Stimme sei eine Gabe. Dieser Alt liegt auch für eine Frauenstimme ungewöhnlich tief und ist von berückend schönem Timbre. Aber eigentlich sei ihr Gesang das Ergebnis aus der Zusammenarbeit mit den richtigen Menschen und ihre Karriere das Resultat vieler glücklicher Begegnungen. Sara Mingardo ist es unangenehm, wenn man ihr mit zu viel Ehrfurcht begegnet.

Aber was würde die Sängerin erst sagen, wenn ich ihr mit dem käme, was ich insgeheim den «Mingardo-Effekt» nenne. Dass ihre Stimme – man möge mir die kitschige Formulierung verzeihen – auf mich fast therapeutisch wirkt?

Sendehinweis

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Radio SRF 2 Kultur überträgt das Eröffnungskonzert des Lucerne Festival mit Sara Mingardo live am Freitag, den 15. August, um 19.30 Uhr.

SRF 1 sendet das Konzert später um 22.25 Uhr.

Ein Stimmwunder im Teatro La Fenice

Vor ein paar Jahren geriet ich zufällig in eine Aufführung der Bachschen h-Moll-Messe am Teatro La Fenice in Venedig. Die Kulisse prachtvoll, das künstlerische Niveau des Hauses eher nicht, seien wir ehrlich. Chor und Orchester scheint irgendwie noch der Verdi vom Vorabend in den Knochen zu stecken. Der in Alter Musik hochversierte Dirigent rudert machtlos vor soviel romantischem Pathos. Der renommierte englische Tenor schaut erst irritiert, dann unglücklich.

Das Wunder geschieht mit den ersten Tönen der Alt-Arie «Qui sedes», ohnehin einer der bewegendsten Momente des Werkes. Die Melodie scheint der Sängerin gleichsam zu entströmen und den Raum zu erfassen, der Dirigent entspannt sich, der Tenor lächelt mit geschlossenen Augen. Schon auf Aufnahmen manifestiert sich eine besondere Stimme, aber live ist Sara Mingardo nichts weniger als ein Ur-Erlebnis. Die Resonanz ihrer Altstimme lässt einen förmlich mitvibrieren, wenn sie singt. Vielmehr: wenn es aus ihr singt – ergreifend schön. Seither treffe ich allerorten auf Gleichgesinnte, auch wenn diese den «Mingardo-Effekt» vielleicht anders nennen als ich.

Geduld: Das Rezept zum Erfolg

«Meine tiefe Stimme ist nicht einzigartig», sagt Sara Mingardo selber. Das Problem sei, dass viele begabte Sängerinnen und Sänger von ihren Lehrern in extreme Lagen «hochgepusht» würden. Mit einem Sopran oder einem Tenor ist eben immer noch mehr Staat zu machen, zumal in Italien, im Lande des Belcanto. Sara Mingardo hat es selbst erlebt, das Unverständnis, dass sie einst mit dem Wunsch erntete, Bach zu singen. Bach? Ghiribizzo – was für eine Schnapsidee! Und erst kürzlich sang sie ihren Lieblingskomponisten Vivaldi in einer nur halbgefüllten Kirche. «Zugegeben ein Wagnis im Verdi-Städtchen Busseto», sagt sie lachend, «aber es braucht halt seine Zeit.»

Eine Chorsängerin mit Solopotential

Ihr professioneller Weg begann übrigens ausgerechnet im wenig glanzvollen Fenice-Opernchor, wo sie sämtliche Donizetti- und Verdichöre rauf und runter schmetterte. Kein Gedanke daran, einmal selbst als Solistin auf der Bühne zu stehen. Sara Mingardo war glücklich im Chor. Andererseits war da das brachliegende Erbe ihrer Heimatstadt, die Werke eines Vivaldi, eines Monteverdi, die musikgeschichtliche Bedeutung der Lagunenstadt.

Ermuntert vom damaligen Opernchorleiter Ferruccio Lozer, der das Solopotiential ihrer Stimme erkannte und förderte, wagte Sara Mingardo Mitte der 80er-Jahre den Alleingang. Sie forschte auf eigene Faust und traf auf ihrem Weg auf Mitstreiter, die zu Freunden wurden: Rinaldo Alessandrini, der kaum eine Aufnahme ohne sie realisiert, Sir Colin Davis, der sie sogar dazu bringt, sich trotz sprachlicher Barrieren an Britten oder Elgar zu wagen. Und natürlich Claudio Abbado, der vielleicht treueste Begleiter ihrer Karriere, dessen Tod Anfang des Jahres Sara Mingardo immer noch zutiefst bedrückt. Seine Menschlichkeit, sein Humor – immer habe er mit ihr gescherzt an den Proben – sie vermisst ihn unendlich und der Auftritt an der Eröffnung des Lucerne Festival ohne ihn, falle ihr nicht leicht.

Gleichwohl werden viele im Publikum ihn spüren, den «Mingardo-Effekt», auch wenn die Sirene selbst vielleicht für einmal lieber der Orpheus wäre. Orpheus, der mit seinem Gesang sogar die Toten erwecken konnte.

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