Zum Inhalt springen

Header

Inhalt

Zukunftsmusik: Jazz Wo ist der Miles Davis von heute?

Die Zeit der grossen Namen sei vorbei, sagt Wolfram Knauer. Trotzdem habe der Jazz eine strahlende Zukunft vor sich.

SRF: Was braucht eine Jazzmusikerin oder ein Jazzmusiker heute, um rauszustechen wie einst Miles Davis oder Ella Fitzgerald? Gibt es sie noch, die «Jahrhundertmusiker»?

Wolfram Knauer: Musik ist heute sehr kleinteilig geworden – und Musiker entwickeln so viel Grossartiges. Die Frage nach Jahrhundertmusikern ist für mich eine sehr persönliche Frage. Welche Musikerin mich berührt, das kann ich Ihnen beantworten. Das sind dann grosse, aber auch kleine Namen.

Wenn sich persönliche Hörerfahrungen bei vielen Leuten überschneiden, dann wird da vielleicht ein Jahrhundertmusiker draus – falls die Plattenindustrie dabei auch mitspielt. Aber die Zeit der Jazzgeschichte als eine Geschichte mit grossen, stilbildenden Namen, wie sie im 20. Jahrhundert stattfand, ist vorbei.

Wie wir die Geschichte des Jazz erzählen, prägt auch, wie wir Jazz hören.

«Jazz mit 100. Keine Heldengeschichte» heisst ein Symposium, das Sie derzeit am Jazzinstitut organisieren. Was versprechen Sie sich davon, die Geschichten von damals zu hinterfragen?

Jazzgeschichte wird normalerweise anhand von grossen Namen oder anhand von wichtigen Städten erzählt: New Orleans, Chicago, New York. Wir wollen eine leichte Verschiebung der Perspektive wagen und zum Beispiel fragen: Gab es neben New Orleans auch kleinere Orte – Charleston etwa – wo der Jazz entstanden ist? Wie wir einander die Geschichte des Jazz erzählen, prägt auch, wie wir Jazz heute hören.

Der Pianist Robert Glasper äusserte sich neulich verärgert: Jazzmusikerinnen, sagte er, müssten auch heute noch mit allen Heroen der Jazzgeschichte gleichzeitig konkurrieren. Ist da etwas Wahres dran?

Wenn es nach vielen Kritikern und Leuten im Jazzpublikum geht: Ja. «Das gab’s doch alles schon. Das hat Miles Davis doch viel besser gemacht. Und: Wo ist denn überhaupt der neue Miles?!»: Das sind Voten, die ich immer wieder höre.

Also ja, man muss sich als Jazzmusiker immer auch an den Legenden messen. Andererseits hat der Jazzmarkt dank dieser Heldenverehrung so lange überlebt. Miles Davis Platten aus den 1950er-Jahren verkaufen sich auch heute noch gut. Sie sind einfach sehr viel langlebiger als zum Beispiel ein Pop Hit.

Zur Person

Box aufklappen Box zuklappen
Legende: jazzinstitut.de

Wolfram Knauer ist Musikwissenschaftler, Jazzforscher, Buchautor und Direktor des Jazzinstituts Darmstadt. Das Institut veranstaltet Konzerte und ist eine staatlich geförderte Forschungsstelle. Das Musikarchiv des Jazzinstitut ist eine der europaweit grössten Erinnerungs-Banken für Jazzliebhaber und Musikforscher.

Warum muss man sich denn ausgerechnet im Jazz mit den grossen Namen von anno dazumal messen?

Das ist eine gute Frage. Der Jazz ist eine oral tradierte Musik, in der ein paar Aufnahmen zu Meisterwerken erklärt wurden. Musikerinnen können sie bis heute auswendig nachspielen.

Diese Identifikation mit Heroen ist immer auch Teil der persönlichen Entwicklung. Das führt dann aber auch dazu, dass man als Jazzmusiker an diesen grossen Vorgängern gemessen wird.

Über die schlichte Imitation hinauszuwachsen und eine eigene musikalische Sprache zu suchen, ist für Jazzmusikerinnen entscheidend. Wie nehmen Sie diese Suche heute wahr?

Nun, es ist mit der Musik so, wie mit allem. Es gibt Entwicklungen, die hin zu stärkerer Komplexität führen. Und dann gibt es Entwicklungen, die schon gewesene Momente neu mischen.

Wir befinden uns im Augenblick eher in dieser Zeit des Neu-Mischens. Aus dem Neu-Mischen kann aber genauso Neues entstehen wie aus dem Neu-Erfinden. Das nimmt allerdings nicht jeder so wahr.

Man muss einfach ans Konzert gehen. Die Ohren öffnen. Das Herz öffnen.

Etliche junge Musikerinnen wollen sich vom Begriff Jazz ganz frei machen. Woran liegt das?

Man lässt sich ungern in Schubladen packen. Die Schublade Jazz bringt verschiedene Klischees mit sich: In Deutschland beispielsweise ist der Jazz eine Musik älterer, männlicher, Pfeife rauchender Lehrer.

In Amerika ist Jazz die Musik schwarzer Musikern für ein meist weisses Publikum. Man erreicht offensichtlich die schwarze Hörerschaft nicht mehr so sehr.

Ganz viel von diesen Klischees überträgt sich dann tatsächlich auf die Hörerwartung. «Jazz, das ist mir ja viel zu kompliziert, da müsste ich erst mal ein Buch darüber lesen.»

Das höre ich immer wieder. Nein! Man muss einfach ans Konzert gehen. Die Ohren öffnen. Das Herz öffnen. Den Bauch vibrieren lassen. Dann erlebt man aus der Kommunikation der Musiker schon ziemlich viel.

Junge Schweizer Jazz-Szene

Box aufklappen Box zuklappen

Eine Auswahl von Konzertorten:

Wie können Musikerinnen denn ein anderes Publikum für sich gewinnen?

Jazzmusiker können eigentlich nichts anderes machen als das, was sie immer machen: Ihre Musik spielen. Im Augenblick habe ich das Gefühl, dass der Jazz hipper wird.

Wenn ich mit älteren Jazzfans spreche, die mir sagen «Ach, ich erlebe in den Konzerten immer nur ein weisshaariges Publikum», dann sag ich: «Ne, der Jazz läuft in anderen Läden. Nur: Da fühlen wir uns als inzwischen selbst Ergraute vielleicht gar nicht so wohl. Da gehen wir gar nicht hin.»

Deshalb bekommen wir gar nicht mit, dass der Jazz natürlich über alle Generationen sein Publikum nach wie vor erobert. Manchmal unter dem Begriff Jazz. Manchmal aber auch in einer musikalischen Form, die nicht mehr viel mit dem zu tun hat, was wir als alteingesessene Jazzer ursprünglich mochten.

Wenn ich wüsste, wie der Jazz der Zukunft klingt, wäre ich fürchterlich enttäuscht.

Wie könnte der Jazz der Zukunft klingen?

Das weiss ich nicht, glücklicherweise. Denn wenn ich’s wüsste, wäre ich fürchterlich enttäuscht. Der New Yorker Jazzkritiker Whitney Balliett hat vom Jazz als «The Sound of Surprise» gesprochen. Ich glaube, das ist wirklich das Wichtigste.

Ich bin jemand, der viel Musik hört. Wenn ich von einem Konzert richtig begeistert bin, dann deswegen, weil ich komplett überrascht wurde. Egal, ob sie auf Tradition reflektieren, völlig frei improvisieren oder etwas ganz anderes machen. Überraschung ist Jazz.

Das Gespräch führte Annina Salis.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Hörpunkt, 2.5.2017, 14 Uhr

Meistgelesene Artikel