Wenn der schmale, schwarz gekleidete Paolo Cirio durch die Strassen streift, an einer Mauer anhält, blitzschnell den Papierdruck einer lebensgrossen Figur ausrollt, mit Leim bestreicht und an die Wand klebt, dann könnten Sie diese Papierfigur sein.
Denn auf diesen Papierfiguren sind Fotos von Menschen zu sehen, aufgenommen für Google Street View. Und diese Figuren platziert Paolo Cirio dort, wo sie aufgenommen wurden.
Anonymität – gibt es nicht!
Mit der Aktion «Street Ghosts» will uns der internationale Konzeptkünstler zeigen: Im Netz ist man längst nicht so anonym, wie manche meinen – selbst dann, wenn Google die Gesichter der Menschen verpixelt.
Denn trotz anonymisierter Köpfe: Einige Menschen erkannten sich auf den Papierfiguren wieder und waren empört. Sie fühlten sich in ihrer Privatsphäre gestört.
«Nach zwei Wochen sind die Ausdrucke schon nicht mehr an den Wänden, im Internet sind sie aber nach wie vor öffentlich», sagt Cirio dazu. Genau um diese Auseinandersetzung geht es ihm.
Unterwegs in den Abgründen des Internets
Seit der Wahl Obamas 2008 hat Cirio immer wieder für ein paar Monate in New York gelebt. 2012 hat der Norditaliener dauerhaft seinen Wohnsitz in die Metropole verlegt. Sie ist momentan der einzige Ort, an dem er sich vorstellen kann zu leben.
Dort findet er viel Stoff für seine Kunst, die sich vor allem um die Abgründe des Internets dreht. Von seinem Studio in der Lower Eastside aus tüftelt er manchmal bis zu zwei Jahren an einer neuen Geschichte.
Gegen den öffentlichen Pranger
«Mugshots» sind das Sujet seiner jüngsten Ausstellung «Obscurity» in der Galerie ISCP in Brooklyn . Mugshots sind die Fotos, die in den USA nach einer Festnahme entstehen und von den Gefängnissen veröffentlicht werden. Auch dann, wenn es sich nur um geringfügige Vergehen handelt wie zu schnelles Fahren oder eine nicht bezahlte Rechnung.
Auf der Website mugshots.com sind rund 80 Millionen dieser Fotos veröffentlicht. Das bringt den Abgebildeten Probleme bei der Job- und Wohnungssuche ein.
Cirio manipulierte die Website und machte zehn Millionen Mugshots unkenntlich, um die Betroffenen zu schützen. Umgehend gab es Ärger mit den Anwälten der Firma mugshots.com. Sie schrieben Cirio : «Sie sollten uns lieber nicht angreifen und Ihre Aktion unverzüglich stoppen. Sonst stoppen wir Sie und werden Ihr Leben ruinieren.»
Cirio verdarb der Firma ein einträgliches Geschäft. Er hatte erfahren, dass die Menschen bis zu 3000 Dollar zahlten, damit sie wieder von dieser Seite gelöscht wurden.
Den ganzen Fall dokumentiert Paolo Cirio in seiner Ausstellung in Brooklyn. Und weist so auf ein Verfahren hin, dass in den USA zwar legal ist, aber dennoch tief in die Privatsphäre eingreift.
«Das Netz kennt dich besser als du dich selbst»
Cirio ist nicht grundsätzlich gegen das Internet. Doch er weist mit seinen Arbeiten auf die unterschiedlichen Bedrohungen hin, die auch dadurch entstehen, dass es kaum Kontrollen im Netz gibt. Ein anderes Problem sei, dass viele User immer noch zu naiv mit ihren Daten umgehen würden.
Paolo Ciro fordert internationale Reglemente. Nur so könne dem Missbrauch und der Übermacht einiger weniger Monopolisten wie zum Beispiel Google, Amazon, Facebook oder Apple Grenzen gesetzt werden.
«Das Internet ist ein Massenmedium. Der Unterschied zu den traditionellen Medien ist nur, dass die Grosskonzerne dich im Netz persönlich anvisieren können. Denn sie kennen dich besser als du dich selbst», meint Cirio.
Sendung: SRF 1, Kulturplatz, 17.1.2018, 22.25 Uhr.