Der Aufstieg des Internets hat die Medienbranche bis zur Unkenntlichkeit verändert. Geschäftsmodelle brachen zusammen. Werbepreise sanken ins Bodenlose. Journalisten verloren ihre Jobs. Doch einer strahlt wie zuvor: Der Zeitungsartikel blieb auch online die Standard-Form des Journalismus.
Doch er hat Schwächen, und immer mehr Menschen kritisieren diese. Zu starr, sei er. Zu kurzlebig. Zu wenig intelligent. Die Lösung für diese Probleme verstecken sich hinter dem Begriff «strukturierter Journalismus».
Was ist das? Was kann das? Sie haben Fragen. Wir haben Antworten.
Ok, was genau ist denn falsch am Artikel?
Vor allem seine Nachhaltigkeit. Jedenfalls so, wie er heute produziert wird. Er wird in so grosser Masse wie nie zuvor produziert und das für eine immer kürzere Zeit auf den Frontseiten. Danach verschwinden die Artikel quasi, sind kaum mehr auffindbar und mit ihnen alle Informationen, die sie enthalten. «Wegwerfware», nennt Gabriel Hase den Artikel. Hase ist Programmierer aus Zürich und arbeitet mit seinem Start-up Upfront I/O an Alternativen, unter anderen für die «Neue Zürcher Zeitung». Andere kritisieren, dass der Artikel zu starr sei. «Jedem und jeder wird der gleiche Artikel vorgesetzt», sagt Thom Nagy, Digitalstratege der Basler «TagesWoche», «egal wie viel er schon weiss, egal wie gross sein Interesse ist.»
Und das kennen Sie bestimmt: Wenn Sie ein Thema – nehmen wir den Gaza-Konflikt – über eine längere Zeit verfolgen, lesen sie die gleichen Informationen immer und immer wieder, weil jemand, der die Geschichte nicht kennt, den Artikel sonst nicht verstehen würde. Wie gut wäre es da, wenn Sie nur die Neuigkeiten erhalten würden und, wer das Thema noch nicht kennt, eine andere Version der Geschichte mit den Hintergrundinformationen. Auch Journalisten hätten weniger Aufwand, wenn sie die gleichen Informationen nicht immer und immer wieder aufschreiben müssten, sondern bereits geschriebene wieder verwenden könnten.
Haben Sie vielleicht ein Beispiel?
Tatsächlich gibt es schon viel mehr, als man denkt. Eines ist recht alt: Die Webseite «Politifact» wurde während den US-Präsidentschaftswahlen bekannt. Seitdem prüfen Journalisten Aussagen von Politikern auf ihren Wahrheitsgehalt. Wenn ein Politiker etwas behauptet, und dabei Fakten erfindet oder Tatsachen verdreht, werden sie auf der Plattform bewertet. Fakten-Checks nennen sie das. Das ist aber nicht der spannendste Teil. Denn jedes Zitat, das bewertet wird, wird systematisch erfasst und in einer Datenbank abgelegt.
Obwohl jeder einzelne Fakten-Check einen Wert hat, verlängert sich seine Halbwertszeit so ungemein. Mit der Zeit kann man so herausfinden, wie genau es ein bestimmter Politiker mit der Wahrheit nimmt. Das ist genau, was man unter «strukturiertem Journalismus» versteht. Die Recherchen werden sofort verwendet – für den einzelnen Faktencheck –, aber auch nachhaltig abgelegt, so dass sie ihren Wert behalten oder durch eine neue Anwendung mehr Wert bekommen. In diesem Falle beispielsweise werden von Politikern, von denen mehrere Aussagen geprüft wurden, Zeugnisse erstellt, in denen Leser sehen können, wie oft die Politiker Tatsachen verdreht oder gelogen haben.
Das gibt’s ja schon seit 2007, was genau ist daran also neu?
Neu ist wohl, dass sich immer mehr Journalisten nicht mehr mit den Schwächen der Artikel-Form abgeben wollen. Grosse Verlagshäuser von New York bis in die Schweiz suchen nach Lösungen, um ihre Arbeit länger haltbar zu machen. Nicht zuletzt alte Medien mit reichhaltigen Archiven sehen hier eine riesige Chance.
Bringt das auch mir als Leser was, oder ist das vor allem gut für die Journalisten?
Für Leser kann das eine Menge bringen. Ein Beispiel: Vielleicht kochen Sie teilweise auch nach Rezepten, die in Ihrer Tageszeitung veröffentlicht werden. Doch ältere Rezepte sind schwer auffindbar, obwohl sie unverändert gut wären. Die «New York Times» hat aus ihrem reichhaltigen Schatz an Rezepten eine neue Plattform gebaut, auf der sie in 15'000 Rezepten suchen können – nach Zutat, Aufwand oder Art der Mahlzeit, zusammen mit vielen anderen Filtern.
Ein anderes Beispiel: «Circa» ist eine App für Smartphones. Sie erfasst einzelne Elemente von Geschichten wie in Modulen – das kann ein Fakt sein, ein Zitat. Weil jedes Element einzeln erfasst und abgelegt wird, können sich die «Circa»-Journalisten die einzelnen Elemente («Karten») nehmen und so zu Artikel-ähnlichen Geschichten zusammenfassen. Für Sie als Leserin oder als Leser bringt das den Vorteil, dass «Circa» weiss, welche Elemente einer Geschichte Sie schon kennen. Passiert also etwas Neues, werden Ihnen so nur die Neuigkeiten gezeigt, und nicht auch der ganze Hintergrund, den Sie ohnehin schon gelesen haben.
Gibt’s auch Beispiele aus der Schweiz?
Noch nicht fürchterlich viele. Eines gibt es bei der Online-Zeitung «Watson». Deren Live-Ticker sind smarter als andere. Ist ein Ereignis zu Ende, kann die Reihenfolge der Updates neu geordnet werden – von alt nach neu zum Beispiel – und Nutzer können wählen, ob sie alle oder nur die wichtigsten Updates sehen wollen. Das geht aber nur, weil Journalisten die Updates auch so erfassen. Das heisst: Sie müssen nicht nur ein Update schreiben, sondern auch deren Wichtigkeit bestimmen. Das können sie bei «Watson» auch im Nachhinein machen. So wird aus dem Live-Ticker ein dynamischer, Ihnen angepasster Artikel. Hier ist ein Beispiel .
Oh. Schön. Was kommt da noch in Zukunft?
Das kommt ein wenig darauf an, ob Verleger die nötigen Investitionen tätigen. Die Kosten sind hoch, denn man muss in neue Erfassungssoftware (CMS) investieren, damit Informationen nachhaltig erfasst werden können. «Circa», die Smartphone-App, hat gleich selbst eine solche Software entwickelt.
Nett. Dieses Frage-Antworten-Spiel hier – ist das jetzt auch «strukturierter Journalismus»?
Nein. Dafür müsste es anders erfasst werden. Der ganze Text, den Sie jetzt gelesen haben, ist in einem einzigen Feld gespeichert. Einen strukturierten Ansatz verfolgt Vox Media, ein Start-up aus den USA. Da wird jede einzelne Frage in einem einzelnen Kärtchen erfasst. So können Sie frei zusammengesetzt und einzeln abgelegt werden. Die können immer wieder verwendet werden, wenn sie zu einem Thema passen. Ausserdem können Sie, der Leser, die Leserin, immer darauf zugreifen, wenn Sie gerade Lust haben, sich mit einem aktuellen Thema zu befassen. Hier gibts eine Übersicht.
Ist ja interessant. Kann ich mehr erfahren?
Klar: Ich habe mit «Politifact»-Erfinder Bill Adair gesprochen, der zu den Pionieren gehört. Dann habe ich mich noch mit «Circa»-Inhalte-Chef David Cohn unterhalten – das war auch interessant, hier gibt's sieben konkrete Beispiele . Und dann gibt's hier einen Blog von Reg Chua, einem Reuters-Journalisten und leidenschaftlichen Werber für den «strukturierten Journalismus» (und offenbar der Erfinder des Begriffs).
Prima, danke.
Gerne. Danke für die Aufmerksamkeit.