Stellen Sie sich vor: Sie sprechen ein paar ausgewählte Wörter in Ihr Smartphone und erhalten als Rückmeldung die Angabe, wo Sie vermutlich aufgewachsen sind; welchen lokalen Dialekt Sie also reden. Tatsächlich verspricht das die «Voice Äpp» für das Gebiet der Deutschschweizer Mundarten. Adrian Leemann und Mitarbeiter des Phonetischen Laboratoriums der Universität Zürich haben die App entwickelt, die es seit Anfang Januar zum kostenlosen Download gibt. Und die «Voice Äpp» macht keine leeren Versprechungen – zumindest bei mir hat sie das richtige Heimatdorf Nunningen im Solothurner Jura getroffen.
Leichtes Schummeln festigt die Identität
Nun ja: Im Lauf der letzten Jahre habe ich ein paar Dialekt-Eigenheiten meines Wohnorts Basel-Stadt angenommen. Aber in die «Voice Äpp» spreche ich natürlich heimatliches «Ching», nicht meine immer öfter verwendete Variante «Chind», die näher beim Baseldeutschen liegt. Man kann das Resultat also leicht manipulieren.
Aber das macht gar nichts, denn, Hand aufs Herz: Wozu ist eine App gut, die einem nur etwas sagt, was man schon weiss? Antwort: Sie ist gut eben fürs Herz! Vom Ort und von der Sprache der Kindheit kommt zumindest ein Teil meiner Identität. Und wenn ich mir diese Identität von einem Algorithmus bestätigen lassen soll, dann finde ich leichtes Schummeln besser als ein niederschmetterndes Resultat wie zum Beispiel «Münchenstein» oder «Therwil». Ich kann das Schummeln ja auch weitertreiben und Dialekte imitieren: Schaffe ich es, dass mich die App ins Emmental oder nach Schaffhausen platziert?
Wie würde ich als Frau klingen?
Die Dialekterkennung ist nur eine von mehreren Funktionen der «Voice Äpp». Ich kann auch meine Sprechgeschwindigkeit und meine Stimmlage einschätzen lassen, im Vergleich zu anderen Sprechern derselben Region. Oder ich höre mir an, wie meine Stimme klänge, wenn ich eine Frau wäre. Ausserdem gibt es auf der App Wissens- und Informationsseiten über Dialekte. Ein rundes Paket Mundart für null Franken!
Ein Deutschschweizer Sprachatlas für das 21. Jahrhundert?
Aber was bewegt den Schweizerischen Nationalfonds (SNF) und die Universität Zürich, dieses Programm, das scheinbar reiner Spielerei dient, mit viel Geld zu ermöglichen? Der potenzielle Nutzen der «Voice Äpp» ist vielfältig. Adrian Leemann und sein Team erhalten von den App-Usern aktuelle Sprachdaten. Wird die «Voice Äpp» ähnlich erfolgreich wie ihre Vorgängerin, die « Dialäkt Äpp », dann ist das ein Schritt hin zu einem aktualisierten «Sprachatlas der deutschen Schweiz», zu einem kartografischen Abbild der Deutschschweizer Dialektlandschaft im 21. Jahrhundert. Ein Bild, das vielleicht gar nicht so anders ist als vor 100 Jahren.
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Natürlich hat sich unser Wortschatz weitgehend modernisiert seit damals. Aber Untersuchungen zeigen, dass lautliche Merkmale einer Dialektregion erstaunlich konstant sind, trotz aller Mobilität und Zuwanderung. Deshalb erkennt die «VoiceÄpp» wohl auch Sprechende, die den Dialekt nur gebrochen beherrschen. Denn wenn jemand aus dem Ausland nach Sankt Gallen zieht, lernt er oder sie «Òòbet» für Abend, in Zürich «Aabig», in Basel «Oobe» und in Bern «Aabe». Das wird auch in Zukunft wohl so bleiben.
Ein wichtiges Instrument für die Forensik
Für den SNF gehört die «Voice Äpp» zur Gruppe der «Agora»-Projekte, die der Wissensvermittlung und -verbreitung verpflichtet sind. Sie sollen «einen Dialog zwischen den Forschenden und der Bevölkerung in Gang setzen», wie es auf der SNF-Internetseite heisst.
Ausserdem ist Spracherkennung weit mehr als nur ein Spiel. Für die Forensik, die kriminaltechnische Ermittlung, ist Spracherkennung zu einem wichtigen Instrument geworden. Der maskierte IS-Terrorist, der im Spätsommer zwei Journalisten enthauptet hat, konnte unter anderem mithilfe von Spracherkennungsprogrammen ziemlich sicher identifiziert werden. Automatische Spracherkennung ist also zugleich für Spiel und Ernst nützlich.