- Im Internet wechseln wir mit einem Klick zwischen Privatleben und Beruf – das ist für unseren Verstand einfacher als für unsere Gefühle.
- Wenn wir das Internet bewusster nutzen und unsere Bedürfnisse besser kennen, können wir dem Gefühl der Ohnmacht entgegenwirken.
- Für das Internet braucht die Gesellschaft neue Rituale und Verhaltensweisen.
Krankhafter Narzissmus, Überforderung durch ständige Erreichbarkeit und perfide Manipulationsmöglichkeiten können uns das Internet verderben. Nicht nur unverbesserliche Kulturpessimisten blicken mit Argwohn auf unser Leben, das immer mehr von den Errungenschaften der Informationstechnologie dominiert wird.
In «Digitale Paranoia – Online bleiben, ohne den Verstand zu verlieren» betrachtet der Psychotherapeut Jan Kalbitzer sein eigenes und das Internetverhalten von Patienten, Freunden und Zufallsbekanntschaften. Und sucht Lösungen.
Die alltägliche Paranoia
Kalbitzer versteht unter digitaler Paranoia nicht etwa massive, psychische Problemen wie Depressionen oder krankhafte Wahnvorstellungen. Kalbitzer spricht von alltäglicher Überforderung und dem Gefühl, dass zu viel Digitales ungesund sei. Auch Wissenschaftler würden mit undifferenzierten Aussagen zu diesem Gefühl beitragen.
Überforderung entstehe zum Beispiel, weil das Internet zeitliche und räumliche Grenzen auflöse. Geschäftliche Mails beantworten wir manchmal noch abends auf dem Sofa. Bei der Arbeit klicken wir durch die Ferienfotos von Facebook-Freunden.
Klick und weg – fast
Im Internet wechseln wir von beruflichen in private oder öffentliche Räume mit einem Klick. «Kognitiv kommen wir im Internet gut mit. Wir übersehen aber, dass unsere Gefühle langsamer sind», erklärt Kalbitzer. Man wisse jedoch noch nicht, ob das am Internet selbst liege, oder einfach daran, dass wir uns an etwas Neues gewöhnen müssen.
Zeit nehmen, Raum schaffen
Sein Buch solle kein klassischer Ratgeber sein, sagt Kalbitzer: «Ich kann niemandem sagen, was er oder sie tun soll.» Dafür ermuntert er die Leserinnen und Leser, kleine Experimente durchzuführen.
Zwölf Experimente sollen helfen, Muster zu erkennen und uns unser Verhalten im Internet bewusst zu machen. Zum Beispiel, indem wir einen ganzen Tag nur online oder nur offline verbringen.
Man solle herausfinden, wie es einem dabei geht, was gefällt, was fehlt. In einem anderen Experiment soll man Räume und Zeiten definieren: für Arbeit, Studium oder einfach für den Zeitvertreib zwischendurch.
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Und das Orakel sprach…
Die Experimente sind keine dogmatischen Anleitungen. Jeder kann sie seiner Situation anpassen. Jeder soll seinen eigene Wege finden, den Herausforderungen des digitalen Alltags zu begegnen.
«Erkenne dich selbst, das ist der einzige Ratschlag, den ich eigentlich geben möchte», fasst Kalbitzer sein Buch frei nach dem Orakel von Delphi zusammen. «Wenn du dich selbst erkennst, dann kannst du ein besseres Leben führen, und Teil einer Gesellschaft werden, die besser wird.»
Wenn es nur so einfach wäre
Ein Buch allein kann die Welt nicht ändern. Das gibt auch Jan Kalbitzer zu. Nebst positiven Reaktionen auf sein Buch gab es auch Kritik: Es biete keine Lösungen für die Hasskultur im Netz.
Das sei schwierig, meint Kalbitzer. Als Psychiater helfe er Einzelpersonen. Die Macht, der Hasskultur entgegenzuwirken, sieht Kalbitzer unter anderen bei uns als einzelnen Nutzerinnen und Nutzer.
Selbst ist das Internet
Wir könnten Kulturbotschafter für bessere Umgangsformen sein. Dies gelte für Hasskommentare genauso wie für die Datengier der Internetgiganten und der Geheimdienste.
Mit kleinen Handlungen könne man eine neue Kultur etablieren. Etwa, indem man alternative Dienste nutzt oder E-Mails verschlüsselt.
Die Zukunft gestalten
Kalbitzer ermuntert die Leser, Neues zu versuchen, Rituale zu entwickeln und über Internetkonsum zu sprechen, mit Kollegen, Familie und Freunden. Die digitale Zukunft sei ein gemeinsames Gestaltungsprojekt.
Kalbitzer ist zuversichtlich, dass uns das langfristig gelingt: «So wie im Moment die Diskussion über das Internet und unser Zusammenleben geführt wird, bin ich optimistisch. Das ist eine gute Voraussetzung, um es in Zukunft besser zu machen.»