In der Schweiz sind rund 800'000 Erwachsene von Leseschwäche betroffen. Je nach Quelle gehören sogar zwischen einem Siebtel und einem Drittel der Bevölkerung zur Risikogruppe mit zu geringen Lesefähigkeiten. Diese Menschen, Illetristen oder auch funktionale Analphabeten genannt, können durchaus Lesen und Schreiben – aber bei komplexeren Texten stossen sie an ihre Grenzen.
Nachrichten in einfacher Sprache
Die Website «Nachrichten leicht» bietet deshalb einmal pro Woche Nachrichten in einfacher Sprache. Das heisst: Kurze Sätze, eine Aussage pro Satz, kein Konjunktiv, keine abstrakten Begriffe und Fremdwörter. Die Website wird von der Nachrichtenredaktion des Deutschlandfunks gemacht, die sonst bekannt ist für eher anspruchsvolle Inhalte. Hier aber erklären sie das Weltgeschehen so einfach wie möglich.
«Das Angebot richtet sich an die vielen Menschen, die mit den herkömmlichen Angeboten nicht klarkommen, für die Radio, Zeitungen oder TV zu kompliziert und zu schwierig sind», erklärt Marco Bertolaso, Nachrichtenchef beim Deutschlandfunk. Er hat das Projekt zusammen mit der Fachhochschule Köln ins Leben gerufen. Geschrieben werden die Meldungen in einfacher Sprache seit Beginn des Jahres 2013.
Das Angebot nutzen nicht nicht nur Illetristen, wie Marco Bertolaso erzählt: Es dient auch fremdsprachigen Menschen, die Deutsch lernen, oder Renterinnen und Rentern, denen normale Angebote zu schnell sind.
Das grundsätzliche Problem wird nicht gelöst
In der Pädagogik werden solche Angebote begrüsst. Man weist aber darauf hin, dass sie nur ein wichtiger Baustein bei der Bekämpfung von Leseschwäche sind. «Solche Angebote können hilfreich sein. Aber sie lösen das grundsätzliche Problem nicht, dass diese Menschen leseschwach sind. Denn es geht ja eigentlich nicht darum, dass ich nur die Texte bewältige, sondern es geht ja eben auch um die grossen schriftsprachlichen Angebote, die der Alltag so bereithält», erklärt Maik Philipp, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Lesen der Fachhochschule Nordwestschweiz in Windisch.
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Und in unserem Alltag spielt Lesen eine immer grössere Rolle – rund vier Stunden lesen wir nach neusten Studien pro Tag. Und die meisten Texte, die für den Alltag wichtig sind, Beipackzettel von Medikamenten etwa, Verträge, Webseiten sind nicht in einfacher Sprache verfasst.
Und für dieses Problem gibt es nur eine Lösung: besser lesen lernen – in Kursen, und nicht allein vor dem Rechner, sagt Maik Philipp: «Wir wissen aus der Forschung, dass wir das Lesen besser in sozialen Kontexten erwerben, als wenn man jemanden alleine vor einen Rechner setzt und ihm ein angepasstes Angebot gibt.»
Die grossen Fragen verständlich erklären
Dass ihre Website nicht die alleinige Lösung des Problems sein kann, sondern vielmehr ein sehr wichtiger Baustein ist für Menschen mit Leseschwäche, ist auch Marco Bertolaso von «Nachrichten leicht» bewusst: «Wir sagen nicht, wir machen leichte Kost für Gruppen mit Leseschwierigkeiten. Wir wollen die grossen Fragen der Zeit – sei es der Syrien-Konflikt oder die Spitzel-Affäre – so erklären, dass es diese Menschen verstehen».
Fest steht: um mit dem gesellschaftlichen Problem Leseschwäche umzugehen, braucht es sowohl sprachlich einfachere Texte als auch pädagogische Leseförderung. Und weitere wichtige Angebote in einfacher Sprache wären sicher zu begrüssen. Die englische Version von Wikipedia hat den Schritt bereits gemacht: Über 100'000 Artikel sind schon in «Simple English» verfügbar.