Tatia Pilieva hat eine hinreissende Geschichte zu erzählen. Die georgische Künstlerin veröffentlichte vergangenen Montag einen keine vier Minuten zählenden Kurzfilm, der binnen Kürze über 40 Millionen Zuschauer fand. «Wildfremde» Menschen hätten sich dem Clip zufolge zum Küssen verabredet.
Doch im Clip tragen die Paare dabei nicht nur ihre Unsicherheit zur Schau, sondern auch die Herbstkollektion 2014 eines amerikanischen Modelabels. Zahlreiche Medien im In- und Ausland sprangen aufs Thema auf – ohne darauf hinzuweisen, dass dahinter Werbung steckt. Das Lifestyle-Magazin «Dazed & Confused» bezeichnet schon jetzt «First Kiss» als den «erfolgreichsten Modefilm aller Zeiten».
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Begeisterte Medien-Resonanz
Mangelt es den Medien an kritischem Bewusstsein? «Was auf den ersten Blick verzaubert», schreibt der Berliner Tagesspiegel Tage nach seiner ersten schwelgerischen Berichterstattung, «entpuppt sich auf den dritten als Werbespot. Aber ist das schlimm?»
Auch das Werbevideo «Supergeil» einer deutschen Supermarktkette entwickelte sich dieser Tage zum globalen Internet-Hit. Weit über sechs Millionen Mal wurde diese Ode an den hemmungslosen Konsum bereits auf YouTube aufgerufen. Darin tänzelt der Künstler Friedrich Lichtenstein durch einen Supermarkt und feiert dabei die Produktpalette vom Tiefkühl-Dorsch bis zum Klopapier als «supergeil».
Nutzer tragen Werbung in die Welt
Nicht allein deutsche Medien, wie «Die Zeit», feiern inzwischen Lichtenstein. Selbst im Ausland sorgt so viel zur Schau getragene Lockerheit des 58-jährigen Künstlers für Entzücken: «Supergeil» sei der neue Gangnam Style, kommentieren US-Magazine wie «Business Insider». Herkömmliche Werbung mit dieser Aufmerksamkeit würde Millionen kosten, frohlockt denn auch die verantwortliche Werbeagentur Jung von Matt. «Supergeil» hingegen generiere sie umsonst.
«Die Macht, die virales Marketing zu entfalten vermag», sagt Jimmy Maymann, «ist unglaublich gross. Erstmalig werden Nutzer zu Verbündeten der Unternehmen um ihre Werbebotschaften in die Welt zu tragen.» Kürzlich ging die von Maymann gegründete Agentur GoViral für den Kaufpreis von rund 100 Millionen Pfund im neuen Konzern AOL Huffington Post auf.
Bereits 2006 entwickelte der Däne mit Blockbustern wie «Dynamite Surfing» virales Marketing zur Industrie. In Amateurvideo-Ästhetik werfen dabei Jugendliche Dynamit in einen Fluss und surfen so auf der Flutwelle. Nervenkitzel und die Frage, ob einem dabei Wahrheit oder Täuschung begegnet, zog die Zuschauer rasch millionenfach in den Bann. Tatsächlich war der Clip Teil einer Kampagne für eine Sportmarke.
Bezahlte Meinungsführer machen den Anfang
Originalität ist dabei nur das Mittel zum Zweck um in kurzer Zeit gewaltige Aufmerksamkeit zu erzeugen. Agenturen platzieren dabei in Kooperation mit Meinungsführern die Clips auf den Seiten angesagter Internetseiten. Dass dabei Geld fliesst, verhehlt man nicht. Die Internetnutzer ahnen indes meist nicht, dass sie es dabei mit einer bezahlten Empfehlung zu tun haben.
«Zunächst muss man sichergehen», sagt Jimmy Maymann, «dass der Clip an die richtigen und wichtigen Personen weitergereicht wird. Die Massen im Netz folgen diesen Trendsetter, das macht sie für uns so wertvoll.»
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Auch der Erfolg des Werbevideos «Supergeil» kommt nicht von ungefähr. Ausgelöst wurde der Hype durch einen bezahlten Beitrag des Bloggers Schlecky Silberstein. Nachdem so Hundertausende auf den Clip aufmerksam wurden und populäre Internetmagazine wie Buzzfeed, Slate oder Adweek über den gemachten Hype berichteten, breitete sich «Supergeil» wie ein Virus aus.
Ob sich virales Marketing langfristig lohnt, bleibt allerdings fraglich. Viele Internutzer fühlen sich, vom Kussvideo berührt, um ihre Emotionen betrogen. Unternehmen, die auf virales Marketing setzen, riskieren demnach auch ihre Glaubwürdigkeit.